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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013<br />

genommen als die westeuropäische. Was zum Beispiel in England der Kapitalismus, hatte bei<br />

uns bereits der Staat verschlungen. Es könnte nichts schaden, wenn sich unsere Gegner des<br />

Westlertums daran erinnern wollten. Herzen war schon die „äußerst unsinnige Tatsache“ aufgefallen,<br />

„daß die Entrechtung des größten Teils der Bevölkerung (bei uns) seit Boris<br />

Godunow bis auf unsere Zeit immer mehr zugenommen hat“. An dieser Tatsache ist nichts<br />

Unsinniges. Es konnte gar nicht anders sein unter unseren unentwickelten wirtschaftlichen<br />

Verhältnissen und angesichts der Anforderungen, die dem russischen Staat durch die Nachbarschaft<br />

mit dem viel weiter entwickelten Westeuropa [641] und zum Teil durch die Borniertheit<br />

unserer Selbstherrscher aufgezwungen wurden, die oft Fragen der internationalen<br />

Politik zu lösen unternahmen, die mit den Interessen Rußlands völlig unverträglich waren.<br />

Für all dies, sowohl für die Nachbarschaft mit Westeuropa als auch für die politischen<br />

Schrullen der Selbstherrscher, mußte der russische Bauer zahlen, unsere einzige zahlungsfähige<br />

Kraft. Der russische Staat nahm und nimmt von seiner werktätigen Bevölkerung verhältnismäßig<br />

(d. h. gemessen an ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit) mehr, als je irgendein<br />

anderer Staat in der Welt genommen hat. Daher die beispiellose Armut der russischen<br />

Bauernschaft, daher auch die „Rechtlosigkeit der Mehrheit der Bevölkerung“, die dem<br />

Staate mittelbar oder unmittelbar untertan war. Auch die Befreiung der Bauern „mit Land“,<br />

über die empfindsame, aber nicht sehr kluge Menschen immer noch so sehr gerührt sind, war<br />

nichts anderes als ein neuer Versuch, die Befriedigung der finanziellen Bedürfnisse des Staates<br />

auf Kosten der Bauern zu sichern. Man gab ihnen das Land, um ihnen die richtige Erfüllung<br />

ihrer „Verpflichtungen gegenüber dem Staat“ zu ermöglichen, oder, besser gesagt, um<br />

dem Staat einen plausiblen Vorwand zu erhalten, sie auszupressen. Der Staat spekulierte mit<br />

der Loskaufoperation, indem er den Bauern das Land teurer verkaufte, als er den Gutsbesitzern<br />

dafür bezahlt hatte. So kam in unserer Zeit eine neue Art von Leibeigenschaft der Bauern<br />

auf, infolge derer ihnen oft (erinnern Sie sich an unsere Statistik) nicht nur der Ertrag, den<br />

das ihnen zugeteilte Land einbringt, genommen wird, sondern auch ein bedeutender Teil dessen,<br />

was sie nebenbei verdienen. Die Dorfflucht der Bauern, ihr Bestreben, das Land loszuwerden,<br />

bedeutet nichts anderes, als daß sie diese neuen Ketten der Leibeigenschaft abwerfen<br />

und wenigstens ihren Nebenverdienst retten wollen. 1 Wenn die Behörden auf [642] die Bau-<br />

1 Hier eine kleine, äußerst aufschlußreiche Szene, die wir einer Skizze Gl. Uspenskis entnehmen. Er begegnet<br />

einem der Vertreter der „herumziehenden Leute“, der ihm wie so ein „luftiges Wesen“ vorkommt, und knüpft mit<br />

ihm ein Gespräch an.<br />

„Als ich ihn fragte, wohin er jetzt wolle und aus welchem Grunde, da antwortete das luftige Wesen: ‚Das weiß ich<br />

selber nicht! ... Vor allen Dingen – ich habe gar keine Geldmittel. Und Paß hab ich auch keinen, und Steuern soll<br />

ich zahlen!‘ Das mit den Steuern war etwas ganz Unerwartetes in dem allgemeinen Eindruck des luftigen Menschen;<br />

er hat kein Kapital, keinen Paß, und er weiß nicht, wohin er geht; er hat nichts zu rauchen, nichts anzuziehen,<br />

nicht einmal eine Mütze – und da kommt man plötzlich mit Steuern! ‚Wofür mußt du denn zahlen?‘ fragte ich,<br />

weil ich nicht recht wußte, wie ich daran war. ‚Für zwei Seelen müssen wir zahlen.‘ – ‚Du allein?‘ –‚Ja so ists!‘ –<br />

‚Da hast du also Land?‘ Der luftige Mensch dachte eine Weile nach, und dann kam es von ihm wie das fröhliche<br />

Zwitschern eines Vogels: ‚Nee! Wir müssen zahlen ohne etwas!‘<br />

Das Gespräch über die Steuern, das meinen Eindruck von der Luftigkeit dieses Menschen dank der letzten Redewendung<br />

»ohne etwas« beinahe zerstört hatte, [642] zerriß von neuem jede Verbindung zwischen ihm und der<br />

Wirklichkeit; er war auf einmal wieder ein völlig luftiges Wesen, was er auch schnell durch die folgenden heiteren<br />

Worte bestätigte.<br />

‚Wir müssen zahlen ohne etwas – das ist doch sehr schön! ... Wenn wir nicht ohne etwas zahlen müßten, dann wärs<br />

viel schlimmer... Aber ohne etwas, dem Herrn seis gedankt!‘ – ‚Ist es schöner, ohne etwas zu zahlen, als nicht ohne<br />

etwas?‘ fragte ich verwundert, weil mir so war, als würde ich nach den letzten Worten zusammen mit meinem<br />

Gesprächspartner von der Erde weg zum Himmel emporschweben und mich im Luftraum befinden – und mit Erstaunen<br />

vernahm ich die noch fröhlicheren Worte: ‚Es ist ganz wunderbar, wenn man ohne etwas zahlen muß!...‘<br />

‚Halt!‘ sagte ich, weil ich merkte, wie mir vor Schweberei so hoch über der Erdoberfläche schwindelte. ‚Du sagst,<br />

es ist schöner, wenn man ohne etwas zahlen muß. Das heißt zahlen, ohne daß man Land bekommt?‘ – ‚Genauso<br />

ists.‘ – ‚Wie denn das? Du könntest doch das Land verpachten?...‘ Der luftige Mensch sagte freudestrahlend: ‚Das<br />

Land, das wir haben, ist ja lauter Sumpf! ...‘<br />

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