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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 ‚Wie es dir beliebt, Euer Gnaden, aber uns ist alles gleich! Wir laufen davon!‘“ Der Polizeipharao ließ sich durch diese Drohung nicht schrecken und brachte die Flüchtlinge nach Paraschkino zurück. Zwei Gehilfen des Gendarmen setzten sich auf den vorderen Wagen der Umsiedler, er selbst fuhr hinter ihnen her. So setzte sich dieser seltsame Zug in Bewegung, der, nach den Worten des Herrn Karonin, „einem Trauerzuge glich, in welchem man mehrere Dutzend Leichen zu ihrem gemeinsamen Grabe, ins Dorf geleitete“. Als sie die Hälfte des Weges hinter sich hatten, fuhr der Gendarm vor bis zur Mitte des Zuges und fragte laut: „‚Nun, meine Lieben, wie ist’s, habt ihr’s euch anders überlegt? oder wollt ihr immer noch davonlaufen? Laßt es lieber sein! Ist ja doch umsonst!‘ ‚Wir laufen davon!‘ antworteten die Bewohner von Paraschkino entschieden.‘“ Bevor sie ins Dorf hineinfuhren, versuchte der Gendarm nochmals, ihnen gut zuzureden. „‚Wir laufen davon!‘ antworteten die Bewohner von Paraschkino mit der gleichen düsteren Entschlossenheit. Der wachsame und umsichtige Beamte, der auf so etwas nicht gefaßt war, bekam Angst und verlor die Fassung.“ Er sah sich in der Tat in einer recht schwierigen Lage. Übrigens hatte er die Hoffnung noch nicht ganz fahrenlassen, den Widerstand der Flüchtlinge zu brechen; und um in ihren verstockten Herzen die Liebe zu der wohltätigen „Macht“ der Sümpfe zu wecken, beschloß er, nachdrücklichere Mittel anzuwenden. Er sperrte die eingefangenen Bewohner von Paraschkino in ein Balkengehege, in das die Viehhirten des Gutsbesitzers Abdulow ihr Vieh einzutreiben pflegten. Dort wollte er sie sitzen lassen, [637] „bis sie das Ungesetzliche ihrer Handlungsweise einsehen würden und ihnen die Lust, davonzulaufen, vergangen wäre“. „Über drei Tage saßen die Gefangenen in der Viehhürde ohne Essen, ohne Futter für die Pferde, aber ihr Entschluß war unverändert. ‚Wir laufen davon!‘ sagten sie auf alle Drohungen. Schließlich war die Geduld Pharaos zu Ende. Eine ‚Melancholie‘ befiel ihn, und er wußte nicht, wie von diesem unglückseligen Dorfe wegkommen. ‚Hol euch der Teufel! Macht, was ihr wollt!‘ rief er und ging fort. Und einen Tag nach seiner Abreise liefen auch die Bewohner von Paraschkino davon. Aber nicht zusammen und in die neue Gegend, sondern jeder für sich, der eine dahin, der andere dorthin, je nachdem, wohin er gerade seine Nase hielt. Die liefen in die Städte... Andere gingen, man weiß nicht wohin, und konnten später von niemand mehr ausfindig gemacht werden, obwohl sie nach wie vor als Einwohner des Dorfes geführt wurden. Wieder andere trieben sich in der Umgebung umher, ohne Familie, ohne feste Beschäftigung, ohne festen Wohnsitz, weil sie um keinen Preis in ihr Dorf zurückkehren wollten. Und so endete Paraschkino.“ Nicht wahr, lieber Leser, kommt Ihnen das alles nicht seltsam und wie eine äußerst tendenziöse Übertreibung vor? Nun, wir können Ihnen versichern, daß das von Herrn Karonin entworfene Bild völlig naturgetreu ist. Die Erzählung „Wie und wohin sie übersiedelten“ ist ein wirkliches „Protokoll“, wenn auch nicht im Geiste der Schüler Zolas. Das beweist sich Ihnen sehr überzeugend durch folgendes. Im Jahre 1868 brachte die slawophile Zeitung „Moskwa“ (Nr. 4 vom 4. Oktober) die Mitteilung, daß viele Bauern des Gouvernements Smolensk all ihre Habe verkauften und davonliefen, so weit sie nur konnten. Der Kreispolizeichef von Poretschje stellte diese Erscheinung in seinem Bericht an die Gouvernementsbehörden folgendermaßen dar: „Infolge der im letzten Jahre erschwerten Lage bezüglich des Lebensunterhalts der Bauern der Staatsdomänen des mir anvertrauten Kreises mit den Amtsbezirken Werchowo, Kasplja, Loino und Inkowo haben die kinderreichen Einzelbauern ihr Vieh und anderen Besitz gegen Lebensmittel verkauft; da sie damit ihren Bedarf an Lebensmitteln nicht 13

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 befriedigen konnten, sind sie dazu übergegangen, ihre Saatfelder, Baulichkeiten und ihre ganze übrige Wirtschaft zu veräußern, und machen sich unter dem Vorwande, Arbeit suchen zu wollen, mit ihren Familien auf den Weg, um in andere Gouvernements überzusiedeln...“ „Der trostlose Zustand des Hungers“, so schrieb der gleiche Kreispolizeichef weiter, „hat bei den Bauern eine verzweifelte Stimmung erzeugt, aus der leicht Unruhen entstehen können...“ Der Vize-Gouverneur von Smolensk, der Kreispolizeichef und der Gendarmerieoberst machten Jagd auf die sich nach allen Richtungen zerstreuenden Bauern und [638] brachten sie wieder an ihren Wohnort zurück, aber all ihr Zureden war vergeblich. „Die Bauern des Amtsbezirks Inkowo erklärten dem Vize-Gouverneur, daß sie auf jeden Fall wegziehen würden und daß es immer noch besser sei, wenn man sie wieder zurückbringe und einsperre, als wenn sie zu Hause verhungern müßten.“ Wir haben den Tatbestand so wiedergegeben, wie er von der Zeitung „Moskwa“ geschildert wurde. Nun sagen Sie, ist die Erklärung der Smolensker Bauern nicht das gleiche wie das „Wir laufen davon“ bei Karonin? Und die Jagd, die der Vize-Gouverneur, der Kreispolizeichef und der Gendarmerieoffizier gegen sie veranstalteten, das ist doch etwas noch Grandioseres als die Schilderung bei Karonin, wo der Landgendarm den Bewohnern von Paraschkino nachsetzte. Wie kann man da unseren Autor noch der Übertreibung beschuldigen! IV Wenn unsere volkstümlerische „Intelligenz“ über die sogenannten Stützen des Volkslebens urteilt, läßt sie die realen, historischen Bedingungen außer acht, unter denen die Entwicklung dieser „Stützen“ vor sich gegangen ist. Selbst wenn man nicht bezweifelt, daß die ländliche Dorfgemeinschaft eine ganz schöne Sache ist, müßte man daran denken, daß die Geschichte oft mit den besten Dingen ein sehr schlimmes Spiel treibt und daß unter ihrem Einfluß aus Vernunft sehr häufig Unsinn und aus Wohltat Plage wird. Das wußte schon Goethe sehr gut. Es genügt nicht, wenn man aus Prinzip für die Dorfgemeinschaft ist, man muß sich fragen, was für ein Leben die russischen Mitglieder der Dorfgemeinschaft unserer Zeit in der heutigen russischen Dorfgemeinschaft führen und ob es nicht besser wäre, wenn es diese Dorfgemeinschaft von heute – mit all ihren heutigen, wirklichen und nicht erdichteten Bedingungen – nicht mehr gäbe? Wir haben gesehen, daß die Dorfbewohner von Paraschkino diese Frage durch die bloße Tatsache ihrer Flucht aus dem Dorfe bejaht haben. Und sie hatten recht, weil das Dorf zu ihrem „Grabe“ geworden war. Wir fürchten immer, daß die „Zivilisation“, d. h. der Kapitalismus, ins Dorf eindringe, der, wie es heißt, den Wohlstand des Volkes zerstören wird. Aber erstens ist die „Zivilisation“ in Gestalt der „vielen Jepischkas“, d. h. in Gestalt der Vertreter des Wucherkapitals, ungeachtet all unserer Klagen, bereits ins Dorf eingedrungen, und zweitens sollte man endlich berücksichtigen, daß es nicht möglich ist, einen Wohlstand zu zerstören, den es nicht gibt. Was hat Djoma verloren, als er sich der Macht [639] der „Sümpfe“ entzog und unter die Macht der Maschine begab? Sie erinnern sich: „So erbärmlich seine Lebensverhältnisse als Fabrikarbeiter auch sein mochten, so kam er doch, wenn er sie mit den Verhältnissen verglich, unter denen er im Dorfe zu leben gezwungen war, zu dem Schlusse, daß man im Mir einfach nicht leben konnte... Mit dem Essen war es bei ihm jetzt auch besser, d. h., er hatte die Gewißheit, auch am andern Tag etwas zu essen zu haben, während er das zu Hause nicht vorher sagen konnte... Was aber das Wichtigste war: außerhalb des Dorfes fügte man ihm keine Kränkungen zu, das Dorf jedoch mutete ihm eine Reihe der erniedrigendsten Kränkungen zu.“ Sie werden sich auch erinnern, daß bei dem Gedanken an das Dorf Djomas „Selbstgefühl als Mensch litt, das in ihm durch den Vergleich des Lebens hier und anderswo“, d. h. des Lebens 14

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013<br />

‚Wie es dir beliebt, Euer Gnaden, aber uns ist alles gleich! Wir laufen davon!‘“<br />

Der Polizeipharao ließ sich durch diese Drohung nicht schrecken und brachte die Flüchtlinge<br />

nach Paraschkino zurück. Zwei Gehilfen des Gendarmen setzten sich auf den vorderen Wagen<br />

der Umsiedler, er selbst fuhr hinter ihnen her. So setzte sich dieser seltsame Zug in Bewegung,<br />

der, nach den Worten des Herrn Karonin, „einem Trauerzuge glich, in welchem man<br />

mehrere Dutzend Leichen zu ihrem gemeinsamen Grabe, ins Dorf geleitete“. Als sie die Hälfte<br />

des Weges hinter sich hatten, fuhr der Gendarm vor bis zur Mitte des Zuges und fragte<br />

laut:<br />

„‚Nun, meine Lieben, wie ist’s, habt ihr’s euch anders überlegt? oder wollt ihr immer noch<br />

davonlaufen? Laßt es lieber sein! Ist ja doch umsonst!‘<br />

‚Wir laufen davon!‘ antworteten die Bewohner von Paraschkino entschieden.‘“<br />

Bevor sie ins Dorf hineinfuhren, versuchte der Gendarm nochmals, ihnen gut zuzureden.<br />

„‚Wir laufen davon!‘ antworteten die Bewohner von Paraschkino mit der gleichen düsteren<br />

Entschlossenheit. Der wachsame und umsichtige Beamte, der auf so etwas nicht gefaßt war,<br />

bekam Angst und verlor die Fassung.“<br />

Er sah sich in der Tat in einer recht schwierigen Lage. Übrigens hatte er die Hoffnung noch<br />

nicht ganz fahrenlassen, den Widerstand der Flüchtlinge zu brechen; und um in ihren verstockten<br />

Herzen die Liebe zu der wohltätigen „Macht“ der Sümpfe zu wecken, beschloß er,<br />

nachdrücklichere Mittel anzuwenden. Er sperrte die eingefangenen Bewohner von Paraschkino<br />

in ein Balkengehege, in das die Viehhirten des Gutsbesitzers Abdulow ihr Vieh einzutreiben<br />

pflegten. Dort wollte er sie sitzen lassen, [637] „bis sie das Ungesetzliche ihrer Handlungsweise<br />

einsehen würden und ihnen die Lust, davonzulaufen, vergangen wäre“.<br />

„Über drei Tage saßen die Gefangenen in der Viehhürde ohne Essen, ohne Futter für die<br />

Pferde, aber ihr Entschluß war unverändert.<br />

‚Wir laufen davon!‘ sagten sie auf alle Drohungen. Schließlich war die Geduld Pharaos zu<br />

Ende. Eine ‚Melancholie‘ befiel ihn, und er wußte nicht, wie von diesem unglückseligen Dorfe<br />

wegkommen. ‚Hol euch der Teufel! Macht, was ihr wollt!‘ rief er und ging fort. Und einen<br />

Tag nach seiner Abreise liefen auch die Bewohner von Paraschkino davon. Aber nicht zusammen<br />

und in die neue Gegend, sondern jeder für sich, der eine dahin, der andere dorthin, je<br />

nachdem, wohin er gerade seine Nase hielt. Die liefen in die Städte... Andere gingen, man<br />

weiß nicht wohin, und konnten später von niemand mehr ausfindig gemacht werden, obwohl<br />

sie nach wie vor als Einwohner des Dorfes geführt wurden. Wieder andere trieben sich in der<br />

Umgebung umher, ohne Familie, ohne feste Beschäftigung, ohne festen Wohnsitz, weil sie<br />

um keinen Preis in ihr Dorf zurückkehren wollten. Und so endete Paraschkino.“<br />

Nicht wahr, lieber Leser, kommt Ihnen das alles nicht seltsam und wie eine äußerst tendenziöse<br />

Übertreibung vor? Nun, wir können Ihnen versichern, daß das von Herrn Karonin entworfene<br />

Bild völlig naturgetreu ist. Die Erzählung „Wie und wohin sie übersiedelten“ ist ein<br />

wirkliches „Protokoll“, wenn auch nicht im Geiste der Schüler Zolas. Das beweist sich Ihnen<br />

sehr überzeugend durch folgendes. Im Jahre 1868 brachte die slawophile Zeitung „Moskwa“<br />

(Nr. 4 vom 4. Oktober) die Mitteilung, daß viele Bauern des Gouvernements Smolensk all<br />

ihre Habe verkauften und davonliefen, so weit sie nur konnten. Der Kreispolizeichef von Poretschje<br />

stellte diese Erscheinung in seinem Bericht an die Gouvernementsbehörden folgendermaßen<br />

dar: „Infolge der im letzten Jahre erschwerten Lage bezüglich des Lebensunterhalts<br />

der Bauern der Staatsdomänen des mir anvertrauten Kreises mit den Amtsbezirken Werchowo,<br />

Kasplja, Loino und Inkowo haben die kinderreichen Einzelbauern ihr Vieh und anderen<br />

Besitz gegen Lebensmittel verkauft; da sie damit ihren Bedarf an Lebensmitteln nicht<br />

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