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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 Wir erinnern uns, wie sich die Volkstümler in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre über Gl. Uspenski entrüstet haben, als seine Skizzen aus dem bäuerlichen Leben zu der allgemeinen Einstellung der Volkstümler allzu sehr in Widerspruch standen. Der literarische Ruf Gl. I. Uspenskis [622] war zum damaligen Zeitpunkt vollkommen fest begründet, es war einfach unmöglich, sein gewaltiges Talent zu ignorieren. Aber wir sind trotzdem überzeugt, daß die Werke Gl. I. Uspenskis, wenn nicht die berühmte „Macht der Erde“ die Sache wieder eingerenkt hätte, jetzt bei weitem nicht mit dem gleichen Interesse gelesen würden, mit dem man sie liest. Dabei ist Uspenski, wie die Mehrzahl der anderen Schriftsteller gleicher Richtung, ebensosehr Publizist wie Belletrist. Er stellt die Dinge nicht nur dar – er stellt auch Betrachtungen über das von ihm Dargestellte an, und durch seine publizistischen Betrachtungen schwächt er den Eindruck, den seine belletristischen Darstellungen hervorgebracht haben. Herr Karonin pflegt das nicht zu tun. Er überläßt es den Lesern, Betrachtungen anzustellen. In seinen Werken eilt der Publizist dem Belletristen nicht zu Hilfe und erweckt nicht durch eine belehrende Überschrift das Interesse der Betrachter an einem Bilde, dessen Inhalt sie gleichgültig läßt. Nur ein ganz großes Talent könnte Herrn Karonin aus dieser Lage heraushelfen. Ein ganz großes Talent bringt es fertig, daß man ihm sogar in solchen Fällen Beachtung schenkt, wo es zu allen eingebürgerten Gewohnheiten und zu allen Anschauungen, denen das Publikum am meisten zugetan ist, in Widerspruch steht. Aber ein solches Talent besitzt Herr Karonin nicht. Seine Begabung ist nicht besonders groß. Einem großen, vollendeten Werk wäre sie sicherlich nicht gewachsen. Weiter als bis zur Erzählung wird es Herr Karonin nicht bringen, ja sogar mit der Erzählung kommt er nicht immer zurecht, besonders wenn er seinen volkstümlerischen Neigungen freien Lauf läßt wie in der Erzählung „Mein Mir“. Sein Gebiet sind kleine Skizzen und Erzählungen, und zwar Skizzen und Erzählungen aus dem Volksleben. Werke, die nichts mit diesem Leben zu tun haben – wie zum Beispiel „Bébé“, „Grjasew“, „Babotschkin“ –‚ sind nicht übel, und manche davon sind wirklich recht hübsch, aber mehr nicht. Sie haben nichts Originelles. Umgekehrt zeichnet sich die Mehrzahl seiner Erzählungen aus dem Leben des Volkes, wie wir bereits sagten, gerade durch Originalität aus. Überhaupt besitzt Herr Karonin auf diesem Gebiete alles, was man braucht, um in der russischen Belletristik unserer Zeit einen durchaus ehrenvollen Platz einzunehmen. Die ernsthafte Kritik wird Herrn Karonin stets gebührend würdigen: er besitzt Geist, Beobachtungsgabe, gesunden, packenden Humor, ein herzliches Verhältnis zu dem dargestellten Milieu und eine bemerkenswerte Kunst, von den hervorstechendsten Zügen dieses Milieus ein schönes Bild zu entwerfen. Freilich mußten wir manchmal hören, wie man Herrn Karonin vorwarf, daß seine Darstellungen durchaus nicht naturgetreu seien. Besonders hat man [623] Herrn Karonin wegen seiner Erzählung „Von unten nach oben“ angegriffen. Viele Leser sind immer noch allen Ernstes überzeugt, daß solche Arbeiter wie Fomitsch oder Michailo Lunin (die handelnden Personen der genannten Erzählung) nichts weiter seien als das Produkt der ungezügelten und tendenziösen Phantasie des Autors. Es scheint diesen Lesern ganz ausgeschlossen, daß es bei uns heutzutage im wirklichen Leben solche Arbeiter geben könne. Wenn jemand, der die Lebensweise der Fabrikarbeiter in unseren großen Städten nicht kennt, sich ihre Vorwürfe anhört, so könnte er wohl auf den Gedanken kommen, daß die volkstümlerische Belletristik in der Person des Herrn Karonin in eine neue, sozusagen romantische Periode ihrer Entwicklung eintrete und daß der erwähnte Autor aus den russischen Arbeitern Pariser ouvriers [französisches Wort für „Arbeiter“] mache – mit der gleichen Ungeniertheit, mit der einmal Marlinski unsere Offiziere zu Helden des Melodramas gemacht hat. Wenn man aber fragt, worauf sich eigentlich diese Vorwürfe gründen, wird man eine nicht im geringsten befriedigende Antwort erhalten. Es wird sich dann sicherlich zeigen, daß die Leute, die 3

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 solche Vorwürfe bringen, das Milieu gar nicht kennen, von dem die Erzählung „Von unten nach oben“ handelt, und daß sie allein schon aus diesem Grunde keine kompetenten Kritiker dieser Erzählung sein können. „Das hat es früher nicht gegeben!“ „Die Alten können sich an so etwas nicht erinnern“ – das ist es, worauf eigentlich alle Beweise der Ankläger hinauslaufen. Diese guten Leute haben gar keine Ahnung davon, daß sich die von ihnen als Autorität angesehenen „Alten“ überhaupt an vieles „nicht erinnern“, da sie das Tuch der Vorurteile, das sie vor den Augen trugen, daran gehindert hat, die sie umgebende Wirklichkeit zu sehen. Wir bitten zu beachten, daß wir durchaus nicht die Absicht haben, die Skizzen und Erzählungen des Herrn Karonin als Muster von Kunstwerken hinzustellen. Davon sind sie – wie übrigens auch die Werke aller unserer Belletristen aus dem Lager der Volkstümler – weit entfernt. In allen Werken dieser Richtung kann die ästhetische Kritik eine große Zahl von Mängeln feststellen. Sie sind alle ein bißchen unbeholfen, unordentlich, zerzaust und zerrupft. Von diesen allgemeinen Mängeln sind auch die Erzählungen des Herrn Karonin nicht frei. Wir wollen bloß mal seine Ausdrucksweise erwähnen. Nach den ersten Worten unseres Autors hat einer der Helden (nämlich Fomitsch) manchmal im Gespräch „solch ein Ding vom Stapel gelassen“, worüber er sich selbst hernach geschämt hat. So kommt es auch bei Herrn Karonin vor, daß er ein „Ding vom Stapel“ läßt, und wenn es ihn selbst [624] nicht weiter geniert, ist es doch ganz dazu angetan, manche in jeder Beziehung anständige Leserin in Verlegenheit zu bringen. Hier darf man nichts verheimlichen: Karonins Ausdrucksweise ist so recht nach Rasnotschinzenart. Und trotz allem steckt, sehen Sie, in dieser etwas rohen Rasnotschinzen-Sprache, in der sich Bildlichkeit mit völlig ungezwungenem Lakonismus vereint, stellenweise ungeheuer viel Ausdruckskraft. Ab und zu ersetzt ein bestimmter Ausdruck, ein einziges Verbum, zum Beispiel „das Leben kroch dahin“ oder „damals schlug er sich sogar sehr wacker“, eine ganze Charakteristik. Ist das kein Vorzug? Und soll man nicht angesichts eines solchen Vorzugs über sprachliche „Entgleisungen“ hinwegsehen? Schließlich, wir wiederholen, besteht der Hauptwert der Skizzen und Erzählungen Karonins darin, daß sich in ihnen der wichtigste der gesellschaftlichen Prozesse unserer Zeit widerspiegelt: die Zersetzung der alten Einrichtungen des Dorfes, das Verschwinden der bäuerlichen Unmittelbarkeit, das Heraustreten des Volkes aus der Kindheitsperiode seiner Entwicklung, das Aufkommen neuer Gefühle, neuer Anschauungen über die Dinge und neuer geistiger Bedürfnisse. Ein gewöhnlicher Lieferant belletristischer Erzeugnisse wäre niemals auf ein so tiefes und dankbares Thema verfallen. II Wenn der Leser diesen besagten Prozeß näher kennenlernen will, so laden wir ihn ein, sich zusammen mit uns den Inhalt einiger Werke des Herrn Karonin ins Gedächtnis zurückzurufen. Da die Zeit ihres Erscheinens für uns keine Bedeutung hat, können wir die zeitliche Reihenfolge außer acht lassen. Beginnen wir mit der Erzählung „Djoma kommt zum letztenmal“. Eine Dorfversammlung. Alle anwesenden Bewohner des Dorfes Paraschkino sind in fürchterlicher Aufregung. Sie streiten, schreien, schimpfen. Wenn man ihre verworrenen, zusammenhanglosen Reden hört, kann man sich gar nicht vorstellen, wie die Ansichten dieser Menschen einst durch ihre „Harmonie“ auf die Herren Volkstümler Eindruck machen konnten. 4

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Wir erinnern uns, wie sich die Volkstümler in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre über Gl.<br />

Uspenski entrüstet haben, als seine Skizzen aus dem bäuerlichen Leben zu der allgemeinen<br />

Einstellung der Volkstümler allzu sehr in Widerspruch standen. Der literarische Ruf Gl. I.<br />

Uspenskis [622] war zum damaligen Zeitpunkt vollkommen fest begründet, es war einfach<br />

unmöglich, sein gewaltiges Talent zu ignorieren. Aber wir sind trotzdem überzeugt, daß die<br />

Werke Gl. I. Uspenskis, wenn nicht die berühmte „Macht der Erde“ die Sache wieder eingerenkt<br />

hätte, jetzt bei weitem nicht mit dem gleichen Interesse gelesen würden, mit dem man<br />

sie liest. Dabei ist Uspenski, wie die Mehrzahl der anderen Schriftsteller gleicher Richtung,<br />

ebensosehr Publizist wie Belletrist. Er stellt die Dinge nicht nur dar – er stellt auch Betrachtungen<br />

über das von ihm Dargestellte an, und durch seine publizistischen Betrachtungen<br />

schwächt er den Eindruck, den seine belletristischen Darstellungen hervorgebracht haben.<br />

Herr Karonin pflegt das nicht zu tun. Er überläßt es den Lesern, Betrachtungen anzustellen.<br />

In seinen Werken eilt der Publizist dem Belletristen nicht zu Hilfe und erweckt nicht durch<br />

eine belehrende Überschrift das Interesse der Betrachter an einem Bilde, dessen Inhalt sie<br />

gleichgültig läßt.<br />

Nur ein ganz großes Talent könnte Herrn Karonin aus dieser Lage heraushelfen.<br />

Ein ganz großes Talent bringt es fertig, daß man ihm sogar in solchen Fällen Beachtung<br />

schenkt, wo es zu allen eingebürgerten Gewohnheiten und zu allen Anschauungen, denen das<br />

Publikum am meisten zugetan ist, in Widerspruch steht. Aber ein solches Talent besitzt Herr<br />

Karonin nicht. Seine Begabung ist nicht besonders groß. Einem großen, vollendeten Werk<br />

wäre sie sicherlich nicht gewachsen. Weiter als bis zur Erzählung wird es Herr Karonin nicht<br />

bringen, ja sogar mit der Erzählung kommt er nicht immer zurecht, besonders wenn er seinen<br />

volkstümlerischen Neigungen freien Lauf läßt wie in der Erzählung „Mein Mir“. Sein Gebiet<br />

sind kleine Skizzen und Erzählungen, und zwar Skizzen und Erzählungen aus dem Volksleben.<br />

Werke, die nichts mit diesem Leben zu tun haben – wie zum Beispiel „Bébé“,<br />

„Grjasew“, „Babotschkin“ –‚ sind nicht übel, und manche davon sind wirklich recht hübsch,<br />

aber mehr nicht. Sie haben nichts Originelles. Umgekehrt zeichnet sich die Mehrzahl seiner<br />

Erzählungen aus dem Leben des Volkes, wie wir bereits sagten, gerade durch Originalität aus.<br />

Überhaupt besitzt Herr Karonin auf diesem Gebiete alles, was man braucht, um in der russischen<br />

Belletristik unserer Zeit einen durchaus ehrenvollen Platz einzunehmen. Die ernsthafte<br />

Kritik wird Herrn Karonin stets gebührend würdigen: er besitzt Geist, Beobachtungsgabe,<br />

gesunden, packenden Humor, ein herzliches Verhältnis zu dem dargestellten Milieu und eine<br />

bemerkenswerte Kunst, von den hervorstechendsten Zügen dieses Milieus ein schönes Bild<br />

zu entwerfen. Freilich mußten wir manchmal hören, wie man Herrn Karonin vorwarf, daß<br />

seine Darstellungen durchaus nicht naturgetreu seien. Besonders hat man [623] Herrn Karonin<br />

wegen seiner Erzählung „Von unten nach oben“ angegriffen.<br />

Viele Leser sind immer noch allen Ernstes überzeugt, daß solche Arbeiter wie Fomitsch oder<br />

Michailo Lunin (die handelnden Personen der genannten Erzählung) nichts weiter seien als das<br />

Produkt der ungezügelten und tendenziösen Phantasie des Autors. Es scheint diesen Lesern<br />

ganz ausgeschlossen, daß es bei uns heutzutage im wirklichen Leben solche Arbeiter geben<br />

könne. Wenn jemand, der die Lebensweise der Fabrikarbeiter in unseren großen Städten nicht<br />

kennt, sich ihre Vorwürfe anhört, so könnte er wohl auf den Gedanken kommen, daß die<br />

volkstümlerische Belletristik in der Person des Herrn Karonin in eine neue, sozusagen romantische<br />

Periode ihrer Entwicklung eintrete und daß der erwähnte Autor aus den russischen Arbeitern<br />

Pariser ouvriers [französisches Wort für „Arbeiter“] mache – mit der gleichen Ungeniertheit,<br />

mit der einmal Marlinski unsere Offiziere zu Helden des Melodramas gemacht hat. Wenn<br />

man aber fragt, worauf sich eigentlich diese Vorwürfe gründen, wird man eine nicht im geringsten<br />

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