erschien nennen menschenähnlichen
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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 [619] S. Karonin* I. Es sind nun an die zehn Jahre – wenn nicht gar volle zehn Jahre – verflossen, seit in unseren besten Zeitschriften zum erstenmal Werke Karonins erschienen. 1* Sein Name ist dem Leserpublikum wohl bekannt. Allein, sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Literatur spricht man über ihn nur wenig. Man liest ihn einmal, aber er wird selten wiedergelesen. Das ist ein schlechtes Zeichen. Es zeigt, daß Herr Karonin aus diesem oder jenem Grunde nicht verstanden hat, seinen Lesern das zu bringen, wofür sie empfänglich sind. Nun muß man bemerken, daß in dem verhältnismäßig nicht sehr zahlreichen Publikum, das seine Erzählungen nach einmaligem Lesen nicht gleich wieder vergißt, über seine Begabung die verschiedensten Ansichten bestehen. Die einen erkennen ihm Talent, und zwar überdurchschnittliches Talent zu; andere behaupten, er habe nur minimales Talent, dessen Weiterentwicklung noch durch die falsche, gekünstelte Manier des Autors gehemmt werde. Das ist schon ein gutes Anzeichen. Es legt den Gedanken nahe, daß Karonin immerhin eine gewisse Originalität besitze. Menschen ohne Originalität werden gewöhnlich entweder von allen unterschiedslos anerkannt oder von allen unterschiedslos verworfen. Untersuchen wir, ob der Schein nicht trügt und ob man Karonin wirklich einen originellen Schriftsteller nennen kann. Herr Karonin gehört zum volkstümlerischen Lager unserer Literatur. In seinen Skizzen und Erzählungen wird, vor allen Dingen, das bäuerliche Leben geschildert. Er sieht dieses Leben vom volkstümlerischen Standpunkt an und begeistert sich gelegentlich gern für die „Harmonie“ der bäuerlichen Weltanschauung. In einigen seiner Werke schwärmt er förmlich dafür. Aber diese Werke stehen vereinzelt da. In der weitaus größten Zahl der Fälle beschreibt Herr Karonin etwas der „Harmonie“ besagter Weltanschauung gänzlich Entgegengesetztes, nämlich jenen Wirrwarr und jenes Chaos, die durch die neuen Bedin-[620]gungen des Lebens im Dorfe in diese Weltanschauung hineingetragen werden. „Luft, Himmel und Erde sind auf dem Lande geblieben, wie sie vor Hunderten von Jahren gewesen sind“‚ sagt er in seiner Erzählung „Die Nerven des Dorfes“. „So wuchs auf der Straße das Gras, in den Gärten der Wermut und auf den Feldern das Getreide, von den Bauern im Schweiße ihres Angesichts produziert. Die Zeit hat nichts an der von jeher das Dorf umgebenden Natur geändert. Alles ist noch wie früher. Nur die Menschen sind offenbar nicht mehr die gleichen: ihre Beziehungen zueinander und zur Luft, zur Sonne und zur Erde, die sie umgibt, haben sich geändert. Es verging kein Monat, wo die Bewohner nicht in Aufregung versetzt worden wären durch eine Änderung oder ein Ereignis, das allem gänzlich widersprach, was die ältesten Leute des Dorfes in Erinnerung hatten.“ „Das hat es früher nicht gegeben“, „die Alten können sich an so etwas nicht erinnern!“ sagte man fast jeden Monat, wenn wieder so etwas vorkam. Ja, und man kann sich auch nicht an etwas erinnern, „was es tatsächlich nie gegeben hat“. Dieses Aufkommen dessen, was es im * Anmerkungen zu: S. Karonin (S. 619-667) Der Aufsatz wurde erstmals gedruckt in dem Sammelband „Sozialdemokrat“ (London 1890, Nr. 1, S. 12-48). Hier drucken wir den Text der Gesamtausgabe der Werke (Bd. X, S. 66-109). 1* Die erste Erzählung von S. Karonin erschien im Jahre 1879 in den „Otjetschestwennyje Sapiski“, Heft 2, mit dem Titel „Der Stumme“. 1
OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 21.07.2013 Dorfe „nie gegeben hat“, spiegelt sich naturgetreu in den Skizzen und Erzählungen des Herrn Karonin wider. Sie sind eine wirkliche Chronik des historischen Prozesses der Umbildung der russischen Bauernschaft. Die gewaltige Bedeutung dieses Prozesses versteht sich von selbst. Von ihm hängt der ganze weitere Gang unserer gesellschaftlichen Entwicklung ab, denn unter seinem Einfluß verändern sich alle Grundlagen unseres gesellschaftlichen Gebäudes, alle einzelnen Teile des Aufbaus unseres gesellschaftlichen Körpers. Die Originalität des Herrn Karonin besteht gerade darin, daß er es, trotz seiner volkstümlerischen Neigungen und Vorurteile, unternommen hat, gerade die Seiten unseres Volkslebens darzustellen, die mit den „Idealen“ der Volkstümler in Konflikt geraten, den Idealen, die in nichts zerfallen werden und bereits zerfallen. Er mußte einen stark entwickelten künstlerischen Instinkt besitzen, er mußte ein sehr feines Ohr für die Erfordernisse der künstlerischen Wahrheit haben, um, ohne an der eigenen Inkonsequenz Anstoß zu nehmen, in seiner Eigenschaft als Belletrist alles das zu verwerfen, wofür er doch auf dem Boden der Publizistik sicherlich leidenschaftlich eingetreten wäre. Wäre es Herrn Karonin weniger um die künstlerische Wahrheit zu tun gewesen, so hätte er schon längst sehr billige, dafür aber sehr zahlreiche Lorbeeren ernten können, wenn er sich nur süß-säuerlichen Darstellungen der seit den ältesten Zeiten, Jahrhunderte hindurch geübten Tugenden der in der Dorfgemeinschaft lebenden Bauern gewidmet hätte. Dabei hätten seine Werke viel an Wert [621] eingebüßt, aber für seinen literarischen Ruf wäre dies für einige Zeit von großem Vorteil gewesen. Die Leser aus den Kreisen der Volkstümler hätten ihm wohlwollende Aufmerksamkeit geschenkt. Man hätte von ihm gesprochen, man hätte seine Werke in der Presse besprochen, man hätte sich auf ihn berufen... Bekanntlich ist der volkstümlerisch eingestellte Leser kein Freund der „Kunst für die Kunst“. Die Literatur betrachtet er, wie auch das Leben, vom Standpunkt der berühmten „Stützen“, die er für unzerstörbar und unbezwingbar hält. Greift er nach einem Buch, so verlangt er vor allen Dingen, daß der Autor diese „Stützen“ in feierlichem Zuge an ihm vorüberziehen lasse. Findet er darin nicht das, was er sucht, läßt er es unbeachtet liegen. Zeitungsnachrichten, statistische Angaben, Darlegungen der Volkswirtschaftler und Angaben der Historiker nimmt er nur in dem Maße zur Kenntnis, in welchem sie die von ihm erwählte Lehre bestätigen. Nirgends, Deutschland ausgenommen, wird Marx mehr gelesen als in Rußland. Und dabei wird er in Rußland am wenigsten verstanden. Woher kommt das? Das kommt daher, daß auch Marx bei uns nur vom Standpunkt der „Stützen“ aus beurteilt wird; da seine Beurteilung von diesem Standpunkt aus nichts anderes bedeutet, als daß er überhaupt nicht anerkannt wird, ist das Ergebnis verständlich. Ganz genauso verhält sich der Leser aus den Kreisen der Volkstümler auch zur Belletristik, wenigstens zu der, die das Volksleben darstellt. Er ist fest davon überzeugt, daß ihm eine solche Belletristik nichts anderes bieten soll als eine neue Gelegenheit, der Geschichte für die glückliche Eigenart des russischen Volkes dankbar zu sein. Werke, die diese Erwartung nicht rechtfertigen, läßt er unbeachtet. Daraus erklärt sich in beträchtlichem Maße die Gleichgültigkeit unserer Volkstümler gegenüber den Werken des Herrn Karonin. Allerdings entsprechen die Werke anderer volkstümlerischer Belletristen ebenfalls nicht immer dem, was man von ihnen erwartet. Sie schildern die Zersetzung der „Stützen“ ebenfalls in recht grellen Farben. Nun kommt es aber auf den Gradunterschied an. Und es unterliegt keinem Zweifel, daß in dieser Hinsicht keiner so weit gegangen ist, daß keiner dieses Thema mit solcher Eindringlichkeit und so oft immer wieder aufgegriffen hat wie Herr Karonin. Und das hat in den Augen der demokratischen „Intelligenz“, die das Hauptkontingent der Leser der volkstümlerischen Belletristik bildet, viel zu bedeuten. 2
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S. Karonin*<br />
I.<br />
Es sind nun an die zehn Jahre – wenn nicht gar volle zehn Jahre – verflossen, seit in unseren<br />
besten Zeitschriften zum erstenmal Werke Karonins <strong>erschien</strong>en. 1* Sein Name ist dem Leserpublikum<br />
wohl bekannt. Allein, sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Literatur spricht<br />
man über ihn nur wenig. Man liest ihn einmal, aber er wird selten wiedergelesen.<br />
Das ist ein schlechtes Zeichen.<br />
Es zeigt, daß Herr Karonin aus diesem oder jenem Grunde nicht verstanden hat, seinen Lesern<br />
das zu bringen, wofür sie empfänglich sind.<br />
Nun muß man bemerken, daß in dem verhältnismäßig nicht sehr zahlreichen Publikum, das<br />
seine Erzählungen nach einmaligem Lesen nicht gleich wieder vergißt, über seine Begabung<br />
die verschiedensten Ansichten bestehen. Die einen erkennen ihm Talent, und zwar überdurchschnittliches<br />
Talent zu; andere behaupten, er habe nur minimales Talent, dessen Weiterentwicklung<br />
noch durch die falsche, gekünstelte Manier des Autors gehemmt werde. Das ist schon<br />
ein gutes Anzeichen. Es legt den Gedanken nahe, daß Karonin immerhin eine gewisse Originalität<br />
besitze. Menschen ohne Originalität werden gewöhnlich entweder von allen unterschiedslos<br />
anerkannt oder von allen unterschiedslos verworfen. Untersuchen wir, ob der Schein nicht<br />
trügt und ob man Karonin wirklich einen originellen Schriftsteller <strong>nennen</strong> kann.<br />
Herr Karonin gehört zum volkstümlerischen Lager unserer Literatur. In seinen Skizzen und<br />
Erzählungen wird, vor allen Dingen, das bäuerliche Leben geschildert. Er sieht dieses Leben<br />
vom volkstümlerischen Standpunkt an und begeistert sich gelegentlich gern für die „Harmonie“<br />
der bäuerlichen Weltanschauung. In einigen seiner Werke schwärmt er förmlich dafür.<br />
Aber diese Werke stehen vereinzelt da.<br />
In der weitaus größten Zahl der Fälle beschreibt Herr Karonin etwas der „Harmonie“ besagter<br />
Weltanschauung gänzlich Entgegengesetztes, nämlich jenen Wirrwarr und jenes Chaos, die<br />
durch die neuen Bedin-[620]gungen des Lebens im Dorfe in diese Weltanschauung hineingetragen<br />
werden.<br />
„Luft, Himmel und Erde sind auf dem Lande geblieben, wie sie vor Hunderten von Jahren<br />
gewesen sind“‚ sagt er in seiner Erzählung „Die Nerven des Dorfes“. „So wuchs auf der Straße<br />
das Gras, in den Gärten der Wermut und auf den Feldern das Getreide, von den Bauern im<br />
Schweiße ihres Angesichts produziert. Die Zeit hat nichts an der von jeher das Dorf umgebenden<br />
Natur geändert. Alles ist noch wie früher. Nur die Menschen sind offenbar nicht mehr<br />
die gleichen: ihre Beziehungen zueinander und zur Luft, zur Sonne und zur Erde, die sie<br />
umgibt, haben sich geändert. Es verging kein Monat, wo die Bewohner nicht in Aufregung<br />
versetzt worden wären durch eine Änderung oder ein Ereignis, das allem gänzlich widersprach,<br />
was die ältesten Leute des Dorfes in Erinnerung hatten.“<br />
„Das hat es früher nicht gegeben“, „die Alten können sich an so etwas nicht erinnern!“ sagte<br />
man fast jeden Monat, wenn wieder so etwas vorkam. Ja, und man kann sich auch nicht an<br />
etwas erinnern, „was es tatsächlich nie gegeben hat“. Dieses Aufkommen dessen, was es im<br />
* Anmerkungen zu: S. Karonin (S. 619-667)<br />
Der Aufsatz wurde erstmals gedruckt in dem Sammelband „Sozialdemokrat“ (London 1890, Nr. 1, S. 12-48).<br />
Hier drucken wir den Text der Gesamtausgabe der Werke (Bd. X, S. 66-109).<br />
1* Die erste Erzählung von S. Karonin <strong>erschien</strong> im Jahre 1879 in den „Otjetschestwennyje Sapiski“, Heft 2, mit<br />
dem Titel „Der Stumme“.<br />
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