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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

aber das demokratische englische Theaterpublikum fort, Shakespeare glühende Verehrung<br />

entgegenzubringen. Garrick war sich bewußt, daß er mit der Umarbeitung der Stücke Shakespeares<br />

Gefahr lief, bei diesem Teil des Publikums heftigen Protest zu wecken. Seine französischen<br />

Freunde machten ihm in ihren Briefen Komplimente ob des „Mutes“, mit dem er dieser<br />

Gefahr entgegentrat. „Car je connais la populace anglaise“, fügte einer von ihnen hinzu. 1<br />

Die Zügellosigkeit der höfischen Sitten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts spiegelte<br />

sich bekanntlich auch auf der englischen Bühne wider, wo sie unglaubliche Ausmaße annahm.<br />

Die in England im Zeitraum von 1660 bis 1690 geschriebenen Komödien sind fast alle, ohne<br />

Ausnahme, nach einem Ausspruch Eduard Engels, als dramatische Unflätereien zu bezeichnen.<br />

2 In Anbetracht dessen kann man a priori sagen, daß in England früher oder später – nach<br />

dem Prinzip der Antithese – eine Gattung dramatischer Werke erscheinen mußte, deren Hauptziel<br />

die [60] Darstellung und Verherrlichung häuslicher Tugenden und kleinbürgerlicher Sittenreinheit<br />

war. Und tatsächlich wurde diese Gattung später von den geistigen Vertretern der englischen<br />

Bourgeoisie geschaffen. Aber auf diese Gattung der dramatischen Werke muß ich später<br />

eingehen, wenn von der französischen „comédie larmoyante“ die Rede sein wird.<br />

Soviel mir bekannt ist, hat Hippolyte Taine die Bedeutung des Prinzips der Antithese in der<br />

Geschichte der ästhetischen Begriffe besser als andere angedeutet und geistreicher als andere<br />

vermerkt. 3<br />

In dem geistreichen und interessanten Buche „Voyage aux Pyrénées“ gibt er seine Unterhaltung<br />

mit seinem Tischnachbarn, Herrn Paul, wieder, der, wie aus allem ersichtlich ist, die<br />

Ansichten des Autors selbst ausdrückt. „Sie fahren nach Versailles“, sagt Herr Paul, „und Sie<br />

ärgern sich über den Geschmack des 17. Jahrhunderts... Aber sehen Sie eine Zeitlang davon<br />

ab, vom Standpunkt Ihrer eigenen Bedürfnisse und Gepflogenheiten zu urteilen... Wir haben<br />

recht, wenn wir von einer Naturlandschaft entzückt sind, wie sie recht hatten, wenn sie eine<br />

solche Landschaft anödete. Für die Menschen des 17. Jahrhunderts gab es nichts Unschöneres<br />

als einen wirklichen Berg. 4 Er rief in ihnen eine Menge unangenehmer Vorstellungen hervor.<br />

Die Menschen, die soeben die Epoche der Bürgerkriege und der halben Vertierung durchgemacht<br />

hatten, dachten bei seinem Anblick an den Hunger, an die langen Ritte in Regen oder<br />

Schnee, an das schlechte Schwarzbrot, zur Hälfte aus Häcksel bestehend, das man ihnen in<br />

den schmutzigen, von Ungeziefer starrenden Gasthäusern gab. Sie hatten genug von der Unmenschlichkeit,<br />

wie wir genug haben von der Zivilisation... Diese Berge ... geben uns die<br />

Möglichkeit, uns zu erholen von unseren Trottoirs, Bureaus und Läden. Die Naturlandschaft<br />

gefällt uns nur aus diesem Grunde. Wenn dem nicht wäre, so würde sie uns ebenso abstoßend<br />

vorkommen, wie sie es einst für Madame von Maintenon war.“ 5<br />

Die Naturlandschaft gefällt uns wegen des Gegensatzes zu dem, was wir in der Stadt bis zum<br />

Überdrusse gesehen haben. Die Stadtbilder und die gestutzten Gärten gefielen den Menschen<br />

des 17. Jahrhunderts wegen des Kontrastes mit den unberührten Gegenden. Die Wirkung des<br />

Prinzips [61] der Antithese ist auch hier unzweifelhaft. Aber eben weil sie unzweifelhaft ist,<br />

1 „Denn ich kenne den englischen Pöbel.“ Hierüber nachzulesen in der interessanten Untersuchung von J. J.<br />

Jusserand, „Shakespeare en France sous l’ancien régime“, Paris 1898, pp. 247/48.<br />

2 „Geschichte der englischen Literatur“, 3. Auflage, Leipzig 1897, S. 264.<br />

3 Tarde bot sich eine herrliche Gelegenheit, die psychologische Wirkung dieses Prinzips in dem Buche<br />

„L’opposition universelle, essai d’une theorie des contraires“, das im Jahre 1897 <strong>erschien</strong>, zu untersuchen. Aber<br />

er nutzte diese Gelegenheit aus irgendeinem Grunde nicht aus und beschränkte sich auf nur ganz wenige Bemerkungen<br />

bezüglich der erwähnten Wirkung. Allerdings sagt Tarde (S. 245), dieses Buch sei keine soziologische<br />

Abhandlung. In einer speziell der Soziologie gewidmeten Abhandlung wäre er mit diesem Gegenstand,<br />

ohne seinen idealistischen Standpunkt aufzugeben, sicherlich nicht fertiggeworden.<br />

4 Vergessen wir nicht, daß das Gespräch in den Pyrenäen stattfindet.<br />

5 [H. Taine,] „Voyage aux Pyrénées“, cinquième édition, Paris, pp. 190-193.<br />

14

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