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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 20.07.2013<br />

die Erinnerungen an das Leben im Dorfe. Pascha erzählte Michailo ausführlich von allen<br />

kleinen Einzelheiten des Lebens im Dorfe: vom Vater, von den Verwandten und Bekannten.<br />

Michailo hörte ihr aufmerksam und interessiert zu, „es war ihm nicht langweilig, diese anscheinend<br />

nichtigen Kleinigkeiten zu hören“. Er mußte über die tragikomischen Abenteuer<br />

der Dorfbewohner oft lachen, aber zugleich „war ihm wehmütig ums Herz. Wie es schien,<br />

bereiteten ihm diese Gespräche Vergnügen und zugleich auch Schmerz.“ Michailo wurde<br />

traurig gestimmt, es trat bei ihm von Zeit zu Zeit eine seltsame, unbegründete Schwermut<br />

auf. „Es war nicht jene Schwermut, die über den Menschen kommt, wenn er nichts zu essen<br />

hat, wenn er geschlagen und beleidigt wird, mit einem Wort, wenn er eine kalte, schmerzliche,<br />

schreckliche Angst um sein Leben empfindet. Nein, ihn hatte eine andere Schwermut<br />

befallen: eine unbegründete, alles durchdringende, ewige Schwermut!“<br />

„Unter der Einwirkung dieser Schwermut wäre Michailo beinahe zum Trinker geworden.<br />

Eines schönen Sonntags, als er mit Fomitsch einen Ausflug in die Umgebung der Stadt gemacht<br />

hatte, wollte er seinen ruhigen und soliden Freund in eine Kneipe ziehen.<br />

‚Gehn wir hinein!‘ sagte er, schrecklich bleich. Fomitsch verstand nicht.<br />

‚Wohin?‘ fragte er.<br />

‚In die Kneipe!‘ stieß Michailo hervor.<br />

‚Wozu?‘<br />

‚Etwas trinken!‘<br />

Fomitsch glaubte, er spaße. ‚Was dir nicht alles einfällt!‘<br />

‚Wenn du nicht willst, geh’ ich eben allein, ich will was zu trinken haben.‘ Mit diesen Worten<br />

setzte Michailo Grigorjewitsch den Fuß auf die erste Stufe der schmutzigen Treppe.“<br />

[610] Aber die Kneipe betrat er nicht. „Blut stieg ihm rot ins Gesicht, dann zog er, noch zögernd,<br />

den Fuß von der Stufe zurück und eilte hierauf Fomitsch nach und lief neben ihm her.“<br />

Diese heftigen Anfälle von Schwermut wiederholten sich oft. „Er hatte einen Drang, sich zu<br />

betrinken, aber wenn er zur Kneipe hintrat, wurde er unschlüssig, zögerte und kämpfte mit<br />

sich, bis er mit einer gewaltigen Willensanstrengung den verhängnisvollen Drang bezwang.<br />

Manchmal kam es vor, daß er wirklich die Kneipe betrat und ein Glas Schnaps bestellte; aber<br />

plötzlich sagte er zum nächstbesten Wirtshausbruder: Da, trink! Er selbst aber lief zur Tür<br />

und hinaus. Manchmal wiederholte sich dieser über seine Kräfte gehende Kampf an einem<br />

verhängnisvollen Tage mehrmals, und dann kam er gänzlich ermattet und halbtot nach Hause...<br />

Das Leiden kehrte nach einem oder nach zwei Monaten wieder.“<br />

Was ist das für ein seltsamer Zustand? In der Literatur der Volkstümler konnten wir bisher<br />

noch nie etwas lesen, daß „Menschen aus dem Volke“ an einer solchen Schwermut leiden<br />

können. Das ist eine Art Byronscher Weltschmerz, der bei einem arbeitenden Menschen gar<br />

nicht am Platze ist. Iwan Jermolajewitsch hat solche Schwermut sicherlich nie gekannt! Was<br />

wollte Michailo? Wir vollen uns bemühen, seine neue seelische Stimmung zu erforschen –<br />

sie ist von Herrn Karonin so schön beschrieben.<br />

„Alles Eigene begann er für wertlos, unwichtig oder gänzlich unnötig zu halten. Selbst seine<br />

geistige Entwicklung, zu der er mit solchen Anstrengungen gelangt war, <strong>erschien</strong> ihm plötzlich<br />

als zweifelhaft. Er fragte sich – hat denn irgend jemand einen Nutzen davon, und was ist<br />

dann weiter? Er trägt gute Kleidung, er sitzt nicht auf Spreu und muß nicht Kleie essen; er<br />

denkt ... liest Bücher, Zeitschriften und Zeitungen. Er weiß, daß die Erde nicht auf drei Walfischen<br />

steht und die Walfische nicht auf einem Elefanten und der Elefant durchaus nicht auf<br />

einer Schildkröte, er weiß außerdem noch tausendmal mehr. Aber wozu das alles? Er liest<br />

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