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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

Wenn Sie sich an das oben Gesagte über die Sitten des englischen Hofadels zur Zeit der Restauration<br />

der Stuarts erinnern, werden Sie, wie ich hoffe, ohne weiteres zugeben, daß der<br />

darin zutage getretene Widerspruchstrieb ein spezieller Fall des Darwinschen Prinzips der<br />

Antithese in der gesellschaftlichen Psychologie ist. Aber hierzu ist noch folgendes zu bemerken.<br />

Solche Tugenden wie Arbeitsamkeit, Ausdauer, Nüchternheit, Sparsamkeit, Sittenstrenge in<br />

der Familie u. a. waren der englischen Bourgeoisie, die danach strebte, sich eine höhere Stellung<br />

in der Gesellschaft zu erobern, sehr nützlich. Aber die den bürgerlichen Tugenden entgegengesetzten<br />

Laster waren dem englischen Adel in seinem Existenzkampf mit der Bourgeoisie<br />

zum mindesten unnütz. Sie lieferten ihm keine neuen Mittel für diesen Kampf und<br />

<strong>erschien</strong>en nur als dessen psychologisches Resultat. Nützlich war dem englischen Adel nicht<br />

sein Hang zu Lastern, die den bürgerlichen Tugenden entgegengesetzt wurden, sondern das<br />

Gefühl, das diesen Hang hervorgerufen hat, d. h. der Haß gegen jene Klasse, deren völliger<br />

Triumph eine ebenso völlige Vernichtung aller Vorrechte der Aristokratie bedeutet haben<br />

würde. Der Hang zu Lastern war nur eine korrelative Veränderung (wenn man diesen von<br />

Darwin entlehnten Terminus hier gebrauchen darf). In der gesellschaftlichen Psychologie<br />

vollziehen sich sehr häufig ähnliche korrelative Veränderungen. Auf sie muß man achten.<br />

Ebenso notwendig ist es aber, sich dabei zu erinnern, daß auch sie im Grunde durch gesellschaftliche<br />

Ursachen hervorgerufen werden. 1*<br />

Aus der Geschichte der englischen Literatur ist bekannt, wie stark sich die von mir genannte,<br />

vom Klassenkampf hervorgerufene psychologische Wirkung des Prinzips der Antithese in<br />

den ästhetischen Begriffen der höheren Klasse widerspiegelte. Die englischen Aristokraten,<br />

die während ihrer Verbannung in Frankreich lebten, wurden dort mit der französischen Literatur<br />

und dem französischen Theater bekannt, die das vorbildliche, auf seine Art einzigartige<br />

Produkt der verfeinerten aristokratischen Gesellschaft darstellten und daher bei weitem mehr<br />

ihren eigenen aristokratischen Tendenzen entsprachen als das englische Theater und die [59]<br />

englische Literatur im Elisabethanischen Zeitalter. Nach der Restauration begann die Herrschaft<br />

der französischen Geschmacksrichtungen auf der englischen Bühne und in der englischen<br />

Literatur. Shakespeare begann man genauso zu behandeln, wie ihn in der Folge die<br />

Franzosen, nachdem sie ihn kennengelernt hatten, behandelten, die hartnäckig an den klassischen<br />

Traditionen festhielten – nämlich als einen „betrunkenen Wilden“. Sein „Romeo und<br />

Julia“ galt damals als „schlecht“ und „Ein Sommernachtstraum“ als ein „lächerliches und<br />

geschmackloses“ Stück; „Heinrich VIII.“ als „naiv“ und „Othello“ als „ärmlich“ 2 . Diese Haltung<br />

Shakespeare gegenüber verschwindet auch im folgenden Jahrhundert nicht völlig. Hume<br />

meinte, das dramatische Genie Shakespeares werde gewöhnlich aus demselben Grunde größer<br />

gemacht, aus dem mißgestaltete und unproportioniert gebaute Körper sehr groß erscheinen.<br />

Er wirft dem großen Dramatiker völlige Unkenntnis der Regeln der Theaterkunst vor<br />

(total ignorance of all theatrical art and conduct). Pope bedauerte, daß Shakespeare für das<br />

Volk (for the people) schrieb und auf die Förderung seitens des Hofes, auf die Protektion<br />

seitens der Hofadligen verzichtete (the protection of his prince and the encouragement of the<br />

court). Sogar der berühmte Garrick, ein glühender Anhänger Shakespeares, bemühte sich,<br />

sein „Idol“ zu veredeln. In seiner Hamlet-Aufführung strich er die Szene mit den Totengräbern<br />

als zu grob. Dem „König Lear“ fügte er einen glücklichen Ausgang hinzu. Dafür fuhr<br />

1* Im Text der Zeitschrift „Natschalo“ (1899, April, S. 77) findet sich zu dieser Stelle folgende Anmerkung des<br />

Verfassers: „Es ist außerdem zu bemerken, daß der Adel seine glänzenden Laster nur dank seiner sozialen Stellung<br />

den ordinären Tugenden der Bourgeoisie gegenüberstellen konnte. In der Psychologie der kämpfenden<br />

Bauernschaft oder der Arbeiterklasse könnte die Wirksamkeit des Prinzips der Antithese nicht auf diese Weise<br />

in Erscheinung treten.“<br />

2 Beljame, ibid., pp. 40/41. Vgl. Taine, 1. c., pp. 508-512.<br />

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