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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 20.07.2013<br />

dem er sich befand, begegneten jeden Augenblick Kähne mit soeben gefangenen Fischen.<br />

„Was ist das für ein Fisch?“ fragte er. „Jetzt sind die Rotaugen da“, antwortete man ihm ...<br />

„Jetzt gibts lauter Rotaugen... Schau, wie viele, viele es sind! Jetzt sind sie in Massen da.“<br />

Dieses Wort: in Massen brachte dem Autor unerwartet die Erklärung seiner Seelenstimmung:<br />

„Ja“, dachte er, „das ist es, warum ich so wehmütig gestimmt bin... Jetzt kommt ‚alles in<br />

Massen‘. Auch die Welse rücken in Massen heran, zu Tausenden, in ganzen ungeheuren<br />

Heerhaufen, daß man sie gar nicht auseinanderjagen [582] kann, und die Rotaugen kommen<br />

ebenfalls ‚in Massen‘, millionenweise dicht nebeneinander, und die Menschen kommen ebenfalls<br />

‚dicht nebeneinander‘, bis Archangelsk und von Archangelsk bis ‚Adesta‘, und von<br />

‚Adesta‘ bis Kamtschatka, und von Kamtschatka bis Wladikawkas und noch weiter bis zur<br />

persischen, zur türkischen Grenze... Bis Kamtschatka, bis Adesta, bis Petersburg, bis Lenkoran<br />

– alles wird jetzt in dicht gedrängter Masse kommen, in einer einzigen Form, wie gemeißelt:<br />

die Felder, die Ähren, die Erde und der Himmel, die Bauern und die Bauernweiber –<br />

alles eins neben dem andern, einer dicht bei dem andern, mit ein und denselben unterschiedslosen<br />

Farben, Gedanken, Kleidern, mit ein und denselben Liedern ... Alles ist eine dicht gedrängte<br />

Masse – die Natur, die Einwohner, die Sittlichkeit, die Wahrheit, die Dichtkunst, mit<br />

einem Wort – es ist ein Hundertmillionenvolk vom gleichen Stamm, das gewissermaßen als<br />

einheitliche Masse lebt und als Masse denkt und nur als Masse begriffen werden kann. Aus<br />

dieser Millionenmasse einen einzelnen, sagen wir mal: unseren Dorfältesten Simeon<br />

Nikititsch abzusondern und zu versuchen, ihn zu verstehen, ist einfach unmöglich... Den<br />

Simeon Nikititsch kann man nur in dem Haufen der anderen Simeon Nikititschs verstehen.<br />

Das Rotauge ist für sich allein nicht viel wert, aber eine Million Rotaugen sind ein Kapital,<br />

und eine Million Simeon Nikititschs bilden ebenfalls ein Wesen, einen Organismus von größtem<br />

Interesse, aber allein, mit seinen eigenen Ideen, kann man ihn nicht begreifen und studieren...<br />

Da hat er soeben so eine Redensart hergesagt: ‚Womit einer nicht handelt, das stiehlt er<br />

auch nicht.‘ Hat er sich das wohl selbst ausgedacht? Nein, das hat die große Masse Mensch<br />

erfunden, worin er lebt, ganz genauso, wie das Kaspische Meer das Rotauge und das Schwarze<br />

Meer die Seezunge erfunden hat. Simeon Nikititsch selbst wird nichts wissen, was er selber<br />

ausgedacht hätte. ‚Mit dem geben wir uns nicht ab – so gescheit sind wir nicht‘, sagt er,<br />

wenn man ihn etwas fragt. Aber wiederum zeigt dieser Simeon Nikititsch, der, wenn es sich<br />

um seine persönliche Meinung handelt, lauter dummes Zeug redet, außergewöhnliche Klugheit,<br />

sowie er anfängt, Meinungen, Sprichwörter, ganze Erzählungen mit moralischem Inhalt<br />

darzubieten, die, man weiß nicht von wem, von der unendlich großen Masse der Simeon<br />

Nikititschs, von dem kollektiven Geist der Millionen geschaffen worden sind. Hier haben wir<br />

alles: Sage, Dichtkunst, Humor, Geist... Ja, es ist unheimlich und schrecklich, wenn man in<br />

dieser ungeheuren menschlichen Masse lebt... Millionen leben ‚wie die übrigen‘, wobei jeder<br />

abgesondert von diesen übrigen die Empfindung hat und sich bewußt ist, daß er ‚in jeder Hinsicht‘<br />

nur wenig wert ist, wie das Rotauge, und daß er nur im großen Haufen etwas bedeutet:<br />

‚es war ein unheimliches Gefühl, das zu erkennen‘.“<br />

[583] Hier finden sich wieder einige Ungenauigkeiten. In Rußland gibt es kein „Hundertmillionenvolk<br />

vom gleichen Stamm“. Und doch ist all dies, wenn man es im richtigen Verhältnis<br />

nimmt, unbestreitbar, vollendet, verblüffend wahr. Das Leben des russischen Volkes ist wirklich<br />

ein „kollektives“ Leben, geschaffen durch nichts anderes als durch die „Bedingungen der<br />

landwirtschaftlichen Arbeit“. Aber das „kollektive Leben“ ist noch nicht das menschliche<br />

Leben im wirklichen Sinne dieses Wortes. Es charakterisiert das Kindheitsalter der Menschheit;<br />

alle Völker mußten es durchlaufen, nur mit dem Unterschied, daß ein glückliches Zusammentreffen<br />

der Umstände einigen von ihnen gestattete, sich davon frei zu machen. Und<br />

nur die Völker, denen dies geglückt ist, sind wirklich zivilisierte Völker geworden. Da, wo<br />

keine innere Entwicklung der Persönlichkeit vorhanden ist, da, wo Geist und Moral noch<br />

nicht ihren „kollektiven“ Charakter verloren haben – dort gibt es eigentlich immer noch we-<br />

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