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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 20.07.2013 chen unveränderten Weise fort wie in der Stadt, wo es bekanntlich keinen gemeinschaftlichen Besitz gibt und wo jeder für sich allein lebt“... Gl. Uspenski hat schließlich auch gesehen, daß das Kulakentum das Produkt der inneren Verhältnisse und nicht nur der äußeren Einwirkungen auf die Dorfgemeinschaft ist, und er gelangte schließlich zu dem Schluß, daß bald die Zeit kommen könne, wo das „Dorf, d. h. alles, was Gutes daran ist, das heißt alle guten Elemente dieses Lebens im Dorfe überdrüssig sein und sich nach allen Richtungen zerstreuen werden, und wo alles, was etwa darin zurückbleibt, da diese Leute die Lust zur Bauernarbeit verloren haben, nur ein schwaches Arbeitsmaterial in den Händen derer sein wird, die ihnen ein bißchen was zu verdienen geben“. Gl. Uspenski rief „neue Menschen“ in das Dorf, er sagte, daß es „neue Ansichten über die Dinge, neue, fortschrittliche, gebildete Männer der Tat“ brauche, damit es in den reichsten Gegenden und in den wohlhabendsten Dorfgemeinschaften „keine Beengung und inmitten des möglichen, greifbar vorhandenen Wohlstandes keine solche unglaubliche Armut gibt, [568] daß die Menschen nicht wissen, wo sie das Haupt hinlegen sollen“. Er glaubte damals, daß er unserer Intelligenz, wenn auch nicht eine leichte, so doch auf jeden Fall lösbare Aufgabe zeigte. 1 Die Erfahrung bereitete ihm jedoch eine neue Enttäuschung. Je länger er im Dorfe lebte, desto mehr überzeugte er sich von der gänzlichen Unmöglichkeit, den Bauern die „neuen Ansichten von den Dingen“, d. h. das Bewußtsein „all der Vorteile der gemeinschaftlichen, kollektiven Arbeit zum allgemeinen Nutzen“ einzuimpfen. Das Vorpredigen solcher Ansichten rief bei den Zuhörern bestenfalls „gähnende Langeweile“ hervor. Aber manchmal nahm die Sache, wie wir weiter unten sehen werden, eine ganz unerwartete Wendung. Neben praktischen Erwägungen suchten die Bauern Gl. Uspenski zu beweisen, daß seine „neuen Ansichten“ auf die Verhältnisse im Dorfe nicht anwendbar seien. Überhaupt war die ablehnende Haltung des „Dorfes“ gegenüber der Propaganda des Autors so groß und so konstant, daß er sich mehr als einmal schwor, „mit ihnen nicht über ihre bäuerlichen Einrichtungen zu sprechen, da in den meisten Fällen solche Gespräche vollkommen fruchtlos sind und keinerlei praktischen Erfolg haben“. Selbstverständlich war unser Autor über eine solche Sachlage stark gekränkt, bis ein zufälliger und „gänzlich nichtiger Umstand“ seinem Denken eine neue Wendung gab. Dank diesem glücklichen Umstand gelangte er zu einer neuen Ansicht über das bäuerliche Leben, seine theoretischen Wanderjahre waren zu Ende, und er lief, wie er meinte, in den sicheren Hafen ein. Das war damals der Beginn der dritten und letzten Periode seines Schaffens. Worin besteht nun die von Gl. I. Uspenski gemachte Entdeckung? V Früher hatte er sich, gleich anderen Volkstümlern, alle Seiten des bäuerlichen Lebens aus den Gefühlen, Vorstellungen und Idealen der Bauern erklärt. Und wir wissen bereits, daß ihm dabei vieles unerklärt und widerspruchsvoll geblieben war. Der obenerwähnte „zufällige Umstand“ veranlaßte ihn, gerade umgekehrt zu verfahren, d. h. in den Formen der Lebensweise des Volkes den Schlüssel zu den Vorstellungen und Idealen des Volkes zu suchen und zu versuchen, die Entstehung der Lebensformen des Volkes „aus den Bedingungen der landwirtschaftlichen Arbeit“ zu erklären. Der Versuch einer solchen Erklärung war von bedeutendem Erfolg gekrönt. [569] Das Leben und die Weltanschauung des Bauern, die ihm früher unverständlich, widerspruchsvoll, inhaltlos und sinnlos erschienen, bekamen plötzlich in seinen Augen „eine erstaunliche Logik“ und Folgerichtigkeit. „Der umfassende und fundamentale Charakter dieser 1 Die aus dieser Periode stammenden Skizzen Gl. Uspenskis sind zusammengefaßt unter dem Titel „Aus dem Dorftagebuch“. 8

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 20.07.2013 Logik“, so sagt er, „wurde mir in dem Maße klar, wie ich der ganzen Organisation des bäuerlichen Lebens – des Familienlebens und des gesellschaftlichen Lebens – die landwirtschaftliche Arbeit zugrunde legte, wie ich versuchte, diese genauer zu erforschen, mir ihre speziellen Eigentümlichkeiten und ihren Einfluß auf den untrennbar mit ihr verbundenen Menschen klarzumachen.“ Es zeigte sich sogar, daß sich aus den Besonderheiten der landwirtschaftlichen Arbeit nicht nur die Form der bäuerlichen Familie und der Dorfgemeinschaft erklärt, sondern auch seine (des Bauern) jahrhundertelang geübte Langmut, seine religiösen Anschauungen, sein Verhältnis zur Regierung und schließlich sogar zu den Herren Volkstümlern selbst. Die landwirtschaftliche Arbeit bringt den Bauern in völlige Abhängigkeit von den ihm unverständlichen und scheinbar völlig zufälligen Erscheinungen der Natur. Die Natur „lehrt ihn, die Macht anzuerkennen, und zwar eine unberechenbare, eigenartige, kapriziös-launenhafte und herzlos-grausame Macht“. Und der Bauer „versteht zu leiden, zu leiden ohne nachzudenken, ohne eine Erklärung zu suchen, zu leiden ohne Widerrede. Er ist mit diesem Ausdruck in der Tat am eigenen Leibe vertraut, dermaßen vertraut, daß es einfach unmöglich ist, für dieses Dulden eine mehr oder weniger genaue Grenze festzulegen.“ Es versteht sich von selbst, daß der Bauer die Natur personifiziert, deren Zufälligkeiten für ihn „in Gott konzentriert sind“. Er glaubt an Gott „stark und unerschütterlich“ und „fühlt fast greifbar seine Nähe“. Er betet zu ihm, damit er ihm gnädig sei, obwohl er kein einziges Gebet richtig versteht. Gl. Uspenski hatte einmal Gelegenheit, ein überaus interessantes Glaubensbekenntnis zu hören. „Ich glaube an einen einzigen Gott Vater“, so lehrte ein ihm bekannter Bauer, Iwan Jermolajewitsch, seinen Sohn, „an Himmel und an Erde. Sichtbar-unsichtbar, hörbar-unhörbar. Du hast gelitten unter Pontius Pilatus... – und weiß Gott, was sonst noch gewesen ist“, bemerkt der Autor. All das ist äußerst albern und sinnlos, aber notwendig so, unvermeidlich und wirklich sehr „logisch“. Der religiöse Aberglaube ist das natürliche Produkt der Beziehungen des Bauern zur Natur, der „Besonderheiten der landwirtschaftlichen Arbeit“. Der Bauer ist in seinem Denken von der „Macht der Erde“ und der Natur versklavt. Bestenfalls kann es bis zu dem Bewußtsein irgendeiner „rationalistischen“ Sekte vordringen, aber niemals kann es sich zur materialistischen und einzig richtigen Ansicht über die Natur, zu der Idee von der Macht des Menschen über die Erde erheben. [570] Ebenfalls aus den Eigentümlichkeiten der landwirtschaftlichen Arbeit erklärt sich auch die Macht des Familienältesten in der bäuerlichen Familie. „Das Oberhaupt im Hause, die häusliche Macht ist etwas Notwendiges“, sagt Gl. Uspenski. „Das erfordert wiederum die Kompliziertheit der landwirtschaftlichen Arbeit, welche die Grundlage der Wirtschaft bildet, und die Abhängigkeit dieser Arbeit von den Befehlen und Anweisungen der Natur.“ In den Agrarverhältnissen der Bauern kann man leicht den entscheidenden Einfluß des gleichen Prinzips verfolgen. „Aus den Erfordernissen, die nur auf die Bedingungen der landwirtschaftlichen Arbeit und der landwirtschaftlichen Ideale gegründet sind, lassen sich auch die Agrarverhältnisse der Dorfgemeinschaft erklären: der Schwache, der seine landwirtschaftliche Aufgabe aus Mangel an den hierfür nötigen Kräften nicht erfüllen kann, tritt das Land (denn was will er damit anfangen?) an den ab, der kräftiger, energischer ist, der die Kraft dazu hat, diese Aufgabe in weiteren Ausmaßen durchzuführen. Da das Kräftequantum ständig wechselt, da bei dem einen, der heute schwach ist, morgen eine Zunahme, bei dem anderen aber eine Abnahme der Kräfte stattfinden kann, muß die Umstellung (передвижка), wie die Bauern die Neuverteilung manchmal nennen, eine unvermeidliche und gerechte Erscheinung sein.“ 9

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 20.07.2013<br />

chen unveränderten Weise fort wie in der Stadt, wo es bekanntlich keinen gemeinschaftlichen<br />

Besitz gibt und wo jeder für sich allein lebt“... Gl. Uspenski hat schließlich auch gesehen, daß<br />

das Kulakentum das Produkt der inneren Verhältnisse und nicht nur der äußeren Einwirkungen<br />

auf die Dorfgemeinschaft ist, und er gelangte schließlich zu dem Schluß, daß bald die<br />

Zeit kommen könne, wo das „Dorf, d. h. alles, was Gutes daran ist, das heißt alle guten Elemente<br />

dieses Lebens im Dorfe überdrüssig sein und sich nach allen Richtungen zerstreuen<br />

werden, und wo alles, was etwa darin zurückbleibt, da diese Leute die Lust zur Bauernarbeit<br />

verloren haben, nur ein schwaches Arbeitsmaterial in den Händen derer sein wird, die ihnen<br />

ein bißchen was zu verdienen geben“. Gl. Uspenski rief „neue Menschen“ in das Dorf, er<br />

sagte, daß es „neue Ansichten über die Dinge, neue, fortschrittliche, gebildete Männer der<br />

Tat“ brauche, damit es in den reichsten Gegenden und in den wohlhabendsten Dorfgemeinschaften<br />

„keine Beengung und inmitten des möglichen, greifbar vorhandenen Wohlstandes<br />

keine solche unglaubliche Armut gibt, [568] daß die Menschen nicht wissen, wo sie das<br />

Haupt hinlegen sollen“. Er glaubte damals, daß er unserer Intelligenz, wenn auch nicht eine<br />

leichte, so doch auf jeden Fall lösbare Aufgabe zeigte. 1<br />

Die Erfahrung bereitete ihm jedoch eine neue Enttäuschung. Je länger er im Dorfe lebte, desto<br />

mehr überzeugte er sich von der gänzlichen Unmöglichkeit, den Bauern die „neuen Ansichten<br />

von den Dingen“, d. h. das Bewußtsein „all der Vorteile der gemeinschaftlichen, kollektiven<br />

Arbeit zum allgemeinen Nutzen“ einzuimpfen. Das Vorpredigen solcher Ansichten rief bei den<br />

Zuhörern bestenfalls „gähnende Langeweile“ hervor. Aber manchmal nahm die Sache, wie wir<br />

weiter unten sehen werden, eine ganz unerwartete Wendung. Neben praktischen Erwägungen<br />

suchten die Bauern Gl. Uspenski zu beweisen, daß seine „neuen Ansichten“ auf die Verhältnisse<br />

im Dorfe nicht anwendbar seien. Überhaupt war die ablehnende Haltung des „Dorfes“ gegenüber<br />

der Propaganda des Autors so groß und so konstant, daß er sich mehr als einmal<br />

schwor, „mit ihnen nicht über ihre bäuerlichen Einrichtungen zu sprechen, da in den meisten<br />

Fällen solche Gespräche vollkommen fruchtlos sind und keinerlei praktischen Erfolg haben“.<br />

Selbstverständlich war unser Autor über eine solche Sachlage stark gekränkt, bis ein zufälliger<br />

und „gänzlich nichtiger Umstand“ seinem Denken eine neue Wendung gab. Dank diesem<br />

glücklichen Umstand gelangte er zu einer neuen Ansicht über das bäuerliche Leben, seine theoretischen<br />

Wanderjahre waren zu Ende, und er lief, wie er meinte, in den sicheren Hafen ein.<br />

Das war damals der Beginn der dritten und letzten Periode seines Schaffens.<br />

Worin besteht nun die von Gl. I. Uspenski gemachte Entdeckung?<br />

V<br />

Früher hatte er sich, gleich anderen Volkstümlern, alle Seiten des bäuerlichen Lebens aus den<br />

Gefühlen, Vorstellungen und Idealen der Bauern erklärt. Und wir wissen bereits, daß ihm<br />

dabei vieles unerklärt und widerspruchsvoll geblieben war.<br />

Der obenerwähnte „zufällige Umstand“ veranlaßte ihn, gerade umgekehrt zu verfahren, d. h.<br />

in den Formen der Lebensweise des Volkes den Schlüssel zu den Vorstellungen und Idealen<br />

des Volkes zu suchen und zu versuchen, die Entstehung der Lebensformen des Volkes „aus<br />

den Bedingungen der landwirtschaftlichen Arbeit“ zu erklären. Der Versuch einer solchen<br />

Erklärung war von bedeutendem Erfolg gekrönt.<br />

[569] Das Leben und die Weltanschauung des Bauern, die ihm früher unverständlich, widerspruchsvoll,<br />

inhaltlos und sinnlos <strong>erschien</strong>en, bekamen plötzlich in seinen Augen „eine erstaunliche<br />

Logik“ und Folgerichtigkeit. „Der umfassende und fundamentale Charakter dieser<br />

1 Die aus dieser Periode stammenden Skizzen Gl. Uspenskis sind zusammengefaßt unter dem Titel „Aus dem<br />

Dorftagebuch“.<br />

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