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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 ländern des 17. Jahrhunderts nicht verschwunden: er trat sicherlich mit der früheren Heftigkeit in den Wechselbeziehungen der Menschen ein und derselben Klasse in Erscheinung. Beljame sagt von den damaligen Engländern der höheren Gesellschaft: „Diese Menschen waren nicht einmal ungläubig: sie leugneten a priori, damit man sie nicht für Puritaner halte und um sich die Mühe des Denkens zu ersparen.“ 1 Von diesen Menschen kann man, ohne fürchten zu müssen, daß man sich irrt, sagen, sie leugneten aus Nachahmung. Indem sie aber seriösere Leugner nachahmten, widersprachen sie den Puritanern. Die Nachahmung war also, so scheint es, eine Quelle des Widerspruchs. Aber wir wissen, wenn unter den englischen Adligen schwache Menschen stärkere im Unglauben nachahmten, dann rührte das davon her, daß der Unglaube zum guten Ton gehörte; und er gehörte dazu einzig und allein kraft des Widerspruchs, einzig und allein als Reaktion gegen das Puritanertum, eine Reaktion, die ihrerseits das Ergebnis des obenerwähnten Klassenkampfes war. Dieser komplizierten Dialektik der psychischen Erscheinungen lagen also Tatsachen gesellschaftlichen Charakters zugrunde. Und hieraus wird klar, bis zu welchem Grade und in welchem Sinne die Schlußfolgerung wahr ist, die ich oben aus einigen Sätzen Darwins gezogen habe: die menschliche Natur bewirkt, daß der Mensch bestimmte Begriffe (oder Geschmacksrichtungen oder Neigungen) haben kann, aber von den ihn umgebenden Bedingungen hängt es ab, ob diese Möglichkeit zur Wirklichkeit wird; diese Bedingungen bewirken, daß bei ihm gerade diese Begriffe (oder Geschmacksrichtungen oder Neigungen) auftreten und nicht andere. Wenn ich mich nicht irre, ist dies dasselbe, was schon vor mir ein russischer Anhänger der materialistischen Geschichtsbetrachtung ausgesprochen hat. „Sobald der Magen eine gewisse Menge an Nahrung aufgenommen hat, beginnt er, entsprechend den allgemeinen Verdauungsgesetzen, zu arbeiten. Kann man nun aber mit Hilfe dieser Gesetze die Frage beantworten, warum Ihr Magen täglich schmackhafte und gehaltvolle Nahrung aufnimmt, in meinem aber ein seltener Gast ist? Erklären diese Gesetze, warum die einen zuviel essen, andere aber Hungers sterben? Es scheint doch, daß man die Erklärung auf einem anderen Gebiet suchen müsse, in der Wirkung von Gesetzen anderer Art. Das betrifft auch den Menschenverstand. Sobald er in eine gewisse Lage gesetzt ist, sobald ihm seine Um-[55]welt gewisse Eindrücke vermittelt, verbindet er sie nach bestimmten allgemeinen Gesetzen (wobei auch hier die Ergebnisse, infolge der Verschiedenheit der erfahrenen Eindrücke, äußerst mannigfaltige Gestalt annehmen). Was setzt ihn aber in diese Lage? Wodurch sind Zustrom und Charakter der neuen Eindrücke bedingt? Das ist eine Frage, die sich durch Denkgesetze nicht löst. Weiter. Stellen Sie sich vor, eine elastische Kugel fällt von einem hohen Turm. Ihre Bewegung vollzieht sich nach dem allen bekannten und sehr einfachen Gesetz der Mechanik. Nun fällt die Kugel aber gegen eine schiefe Ebene, und ihre Bewegung verändert sich nach einem anderen, ebenfalls sehr einfachen und allen bekannten Gesetz der Mechanik. Das Ergebnis ist eine gebrochene Bahnlinie, von der man sagen kann und muß, daß sie ihre Entstehung der vereinten Wirkung der beiden erwähnten Gesetze verdankt. Woher kam aber die schiefe Ebene, auf die die Kugel aufschlug? Das erklärt weder das erste Gesetz noch das zweite, noch auch ihre vereinte Wirkung. Das betrifft auch das menschliche Denken. Woher stammten die Umstände, die den Denkvorgang der vereinten Wirkung dieser oder jener Gesetze unterwarfen? Das erklären weder die einzelnen Denkgesetze noch ihre zusammengefaßte Wirkung.“ 2* 1 Alexandre Beljame, „Le Public et les Hommes de lettres en Angleterre du dix-huitième siècle“, Paris 1881, pp. 7/8. 2* Bei dem hier angeführten Zitat handelt es sich einfach um eine Stelle aus dem polemischen Buche „Über die Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung“, das Plechanow 1894 geschrieben und 1895 in Petersburg unter dem Pseudonym N. Beltow veröffentlicht hat. Ein Teil dieses Zitats wird auf S. 161/162 noch einmal gebracht. 10

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 Ich bin fest überzeugt, daß die Geschichte der Ideologien nur denen verständlich sein kann, die sich diese einfache und klare Wahrheit angeeignet haben. Gehen wir weiter. Als ich über die Nachahmung sprach, erwähnte ich den ihr direkt entgegengesetzten Trieb, den ich Widerspruchstrieb nannte. Ihn müssen wir aufmerksamer studieren. Wir wissen, welche große Rolle, Darwin zufolge, bei Mensch und Tier das „Prinzip der Antithese“ bei der Wiedergabe von Empfindungen spielt. „Gewisse Seelenzustände führen zu bestimmten gewohnheitsmäßigen Handlungen, welche, nach unserem ersten Prinzip, zweckmäßig sind. Wenn nun ein direkt entgegengesetzter Seelenzustand herbeigeführt wird, so tritt eine sehr starke und unwillkürliche Neigung zur Ausführung von Bewegungen einer direkt entgegengesetzten Natur ein, wenn auch dieselben von keinem Nutzen sind, und derartige Bewegungen sind in manchen Fällen äußerst ausdrucksvoll.“ 1 Darwin bringt eine Menge Beispiele, die ganz überzeugend dartun, daß das „Prinzip der Antithese“ tatsächlich vieles in der Wiedergabe von Empfindungen erklärt. Ich frage: Ist seine Wirkung nicht in der Entstehung und Entwicklung der Gewohnheiten zu bemerken? [56] Wenn sich ein Hund vor seinem Herrn mit dem Bauche nach oben hin streckt, so dient seine Pose der Darstellung dessen, was man immer nur für den Gegensatz auch des leisesten Schattens eines Widerstandes halten kann, als Ausdruck völligster Unterwerfung. Hier springt die Wirkung des Prinzips der Antithese sofort in die Augen. Ich denke jedoch, daß sie auch in dem folgenden Fall in die Augen springt, der von dem Reisenden Burton mitgeteilt wird. Die Neger des Stammes Wanjamwesi tragen, wenn sie an Dörfern vorbeikommen, die ein ihnen feindlicher Stamm bewohnt, keine Waffe bei sich, um die Feinde durch ihren Anblick nicht zu reizen. Dabei ist zu Hause jeder von ihnen stets bewaffnet, wenigstens mit einem Knüppel. 2 Wenn nach der Bemerkung Darwins ein Hund, der sich auf den Rücken wirft, damit zu dem Menschen oder zu einem anderen Hunde gewissermaßen sagt: „Schau! Ich bin dein Sklave!“, so sagt der Wanjamwesi-Neger, der gerade dann die Waffe weglegt, wenn er sich, so könnte man meinen, unbedingt bewaffnen müßte, zu seinem Feinde: „Mir liegt jeder Gedanke an Selbstverteidigung fern; ich verlasse mich völlig auf deine Großmut.“ Hier wie dort der gleiche Sinn und der gleiche Ausdruck, d. h. ein Ausdruck mittels einer Handlung, die der direkt entgegengesetzt ist, welche unvermeidlich wäre, falls an Stelle der Unterwürfigkeit feindliche Absichten beständen. In Gewohnheiten, die zum Ausdruck der Trauer dienen, ist die Einwirkung des Prinzips der Antithese ebenfalls in erstaunlicher Klarheit zu bemerken. David und Charles Livingstone sagen, die Negerin erscheine nie öffentlich ohne die Pelelé, außer in Zeiten der Trauer um Verstorbene. 3 Wenn einem Neger des Stammes Niamniam einer seiner nächsten Angehörigen stirbt, schneidet er sich zum Zeichen der Trauer unverzüglich die Haare ab, auf deren Pflege sowohl er selbst als auch seine Frauen viel Sorge und Aufmerksamkeit verwenden. 4 Den Worten Du Caillus zufolge legen in Afrika nach dem Tode eines Menschen, der in seinem Stamme eine 1 „Über den Ausdruck der Empfindungen (Emotionen) bei Mensch und Tier“, St. Petersburg 1872, S. 45. [Charles Darwin, „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren“, Stuttgart 1872, S. 28/29.] 2 [Burton,] „Voyage aux grands lacs de l’Afrique orientale“, Paris 1862, p. 610. 3 „Exploration du Zambèze et de ses affluents“, Paris 1866, p. 109. [David und Charles Livingstone, „Neue Missionsreisen in Südafrika. Forschungen am Zambesi und seinen Nebenflüssen“, Jena und Leipzig 1866, S. 125.] 4 Schweinfurth, „Au cœur de l’Afrique“, t. II, p. 33. [„Im Herzen von Afrika“, Erster Teil, Leipzig 1874, S. 38.] 11

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

ländern des 17. Jahrhunderts nicht verschwunden: er trat sicherlich mit der früheren Heftigkeit<br />

in den Wechselbeziehungen der Menschen ein und derselben Klasse in Erscheinung.<br />

Beljame sagt von den damaligen Engländern der höheren Gesellschaft: „Diese Menschen<br />

waren nicht einmal ungläubig: sie leugneten a priori, damit man sie nicht für Puritaner halte<br />

und um sich die Mühe des Denkens zu ersparen.“ 1 Von diesen Menschen kann man, ohne<br />

fürchten zu müssen, daß man sich irrt, sagen, sie leugneten aus Nachahmung. Indem sie aber<br />

seriösere Leugner nachahmten, widersprachen sie den Puritanern. Die Nachahmung war<br />

also, so scheint es, eine Quelle des Widerspruchs. Aber wir wissen, wenn unter den englischen<br />

Adligen schwache Menschen stärkere im Unglauben nachahmten, dann rührte das davon<br />

her, daß der Unglaube zum guten Ton gehörte; und er gehörte dazu einzig und allein<br />

kraft des Widerspruchs, einzig und allein als Reaktion gegen das Puritanertum, eine Reaktion,<br />

die ihrerseits das Ergebnis des obenerwähnten Klassenkampfes war. Dieser komplizierten<br />

Dialektik der psychischen Erscheinungen lagen also Tatsachen gesellschaftlichen Charakters<br />

zugrunde. Und hieraus wird klar, bis zu welchem Grade und in welchem Sinne die Schlußfolgerung<br />

wahr ist, die ich oben aus einigen Sätzen Darwins gezogen habe: die menschliche<br />

Natur bewirkt, daß der Mensch bestimmte Begriffe (oder Geschmacksrichtungen oder Neigungen)<br />

haben kann, aber von den ihn umgebenden Bedingungen hängt es ab, ob diese Möglichkeit<br />

zur Wirklichkeit wird; diese Bedingungen bewirken, daß bei ihm gerade diese Begriffe<br />

(oder Geschmacksrichtungen oder Neigungen) auftreten und nicht andere. Wenn ich mich<br />

nicht irre, ist dies dasselbe, was schon vor mir ein russischer Anhänger der materialistischen<br />

Geschichtsbetrachtung ausgesprochen hat.<br />

„Sobald der Magen eine gewisse Menge an Nahrung aufgenommen hat, beginnt er, entsprechend<br />

den allgemeinen Verdauungsgesetzen, zu arbeiten. Kann man nun aber mit Hilfe dieser<br />

Gesetze die Frage beantworten, warum Ihr Magen täglich schmackhafte und gehaltvolle Nahrung<br />

aufnimmt, in meinem aber ein seltener Gast ist? Erklären diese Gesetze, warum die einen<br />

zuviel essen, andere aber Hungers sterben? Es scheint doch, daß man die Erklärung auf<br />

einem anderen Gebiet suchen müsse, in der Wirkung von Gesetzen anderer Art. Das betrifft<br />

auch den Menschenverstand. Sobald er in eine gewisse Lage gesetzt ist, sobald ihm seine<br />

Um-[55]welt gewisse Eindrücke vermittelt, verbindet er sie nach bestimmten allgemeinen<br />

Gesetzen (wobei auch hier die Ergebnisse, infolge der Verschiedenheit der erfahrenen Eindrücke,<br />

äußerst mannigfaltige Gestalt annehmen). Was setzt ihn aber in diese Lage? Wodurch<br />

sind Zustrom und Charakter der neuen Eindrücke bedingt? Das ist eine Frage, die sich durch<br />

Denkgesetze nicht löst.<br />

Weiter. Stellen Sie sich vor, eine elastische Kugel fällt von einem hohen Turm. Ihre Bewegung<br />

vollzieht sich nach dem allen bekannten und sehr einfachen Gesetz der Mechanik. Nun<br />

fällt die Kugel aber gegen eine schiefe Ebene, und ihre Bewegung verändert sich nach einem<br />

anderen, ebenfalls sehr einfachen und allen bekannten Gesetz der Mechanik. Das Ergebnis ist<br />

eine gebrochene Bahnlinie, von der man sagen kann und muß, daß sie ihre Entstehung der<br />

vereinten Wirkung der beiden erwähnten Gesetze verdankt. Woher kam aber die schiefe Ebene,<br />

auf die die Kugel aufschlug? Das erklärt weder das erste Gesetz noch das zweite, noch<br />

auch ihre vereinte Wirkung. Das betrifft auch das menschliche Denken. Woher stammten die<br />

Umstände, die den Denkvorgang der vereinten Wirkung dieser oder jener Gesetze unterwarfen?<br />

Das erklären weder die einzelnen Denkgesetze noch ihre zusammengefaßte Wirkung.“ 2*<br />

1 Alexandre Beljame, „Le Public et les Hommes de lettres en Angleterre du dix-huitième siècle“, Paris 1881, pp.<br />

7/8.<br />

2* Bei dem hier angeführten Zitat handelt es sich einfach um eine Stelle aus dem polemischen Buche „Über die<br />

Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung“, das Plechanow 1894 geschrieben und 1895 in Petersburg<br />

unter dem Pseudonym N. Beltow veröffentlicht hat. Ein Teil dieses Zitats wird auf S. 161/162 noch einmal<br />

gebracht.<br />

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