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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 08.07.2013 mit derlei irdischen Gaben, daß keiner sich je getraut hätte, sie in solcher Fülle zu wünschen.“ (Bd. 1, S. 328/329.) 1 Wenn schließlich zu erklären ist, warum sich dieser Krieg länger hinzog als jener, so antwortet uns der hl. Augustinus, Gott habe es so gewollt. „Auf gleiche Weise stehen auch die Zeiten der Kriege in seiner Macht, und Er endiget die einen früher, die anderen später, je nachdem Er, nach seinem gerechten Gerichte und seiner Barmherzigkeit, für gut findet, das menschliche Geschlecht zu züchtigen oder zu trösten.“ (Bd. 1, S. 323.) 2 Sie sehen, der hl. Augustinus bleibt seinem Grundprinzip unverändert treu. Leider genügt es nicht, einem bestimmten Prinzip treu zu bleiben, wenn man die richtige Erklärung historischer Ereignisse ermitteln will. Vor allem muß dieses Grundprinzip richtig gewählt sein, und zum zweiten muß der Geschichtsphilosoph, getreu seinem Grundprinzip, sorgfältig alle Tatsachen studieren, die der zu erklärenden Erscheinung vorausgegangen sind und sie begleitet haben. Das Grundprinzip kann und darf bei der Analyse historischer Ereignisse immer nur als Leitfaden dienen. Aber die Theorie des hl. Augustinus ist in jeder der beiden angeführten [7] Beziehungen schwach. Eine Methode der historischen Wirklichkeitsanalyse gibt sie nicht. Was ihr Grundprinzip betrifft, so bitte ich Sie, folgendes zu beachten: Der hl. Augustinus spricht über das, was er die Gesetze der Vorsehung nennt, mit einer solchen Überzeugung und in solchen Einzelheiten, daß man sich beim Lesen unwillkürlich fragt, ob nicht sein Gott vor ihm seine verborgensten Geheimnisse entschleiert habe. Aber derselbe Autor spricht in demselben Werke mit der gleichen Überzeugung, seinem „Grundprinzip“ treu, davon, daß die Wege des Herrn unerforschlich sind. Nun, und wenn das so ist, warum sich dann gegebenenfalls mit der undankbaren und unfruchtbaren Aufgabe befassen, diese „Wege“ aufzudecken? Und warum sich bei der Erklärung der Ereignisse im menschlich Leben auf diese „unerforschlichen Wege“ berufen? Der Widerspruch ist offensichtlich, und da er offensichtlich ist, sind selbst Menschen heißen und unerschütterlichen Glaubens gezwungen, sich von der theologischen Erklärung der Geschichte abzuwenden, wenn sie nur ein wenig der Logik Rechnung tragen und wenn sie nicht bestätigen wollen, daß das Unerforschliche, d. h. das, was nicht zu erklären und zu verstehen ist, alles erklärt und verständlich macht. Gehen wir zu Bossuet (1627-1704) über. Ähnlich wie der hl. Augustinus steht auch Bossuet bei der Deutung der Geschichte auf theologischem Standpunkt. Er ist überzeugt, daß die historischen Schicksale der Völker oder, wie er sich ausdrückt, die Bewegungen der Reiche (révolutions des empires) durch die Vorsehung gelenkt werden. „Vors erste“, sagt er im „Discours sur l’histoire universelle“, „haben diese Reiche gemeiniglich eine notwendige Verbindung mit der Geschichte des Volkes Gottes. Gott hat sich der Assyrer und Babylonier bedient, dieses Volk zu bestrafen; er brauchte die Perser, die Juden wieder in ihr Land zu bringen; den Alexander und seine ersten Nachfolger, um sie zu beschützen; den Antiochus Epiphanes und seine Nachfolger, um ihre Geduld zu üben; und die Römer, um ihre Freiheit gegen die Könige in Syrien zu verteidigen, welche nur auf den Umsturz derselben bedacht waren. Die Juden haben unter der Gewalt der Römer ihre obrigkeitliche Gewalt bis auf Jesum Christum behauptet. Nachdem sie aber ihn verkannt und gekreuzigt haben, so gaben eben diese Römer ihre Macht dazu her, Gott an diesem Volke zu rächen, und dieses undankbare Volk auszurotten usw. („Discours“ ‚ Ausgabe Garniers frères, p. 334.) 3 Mit einem Wort, alle Völker und alle großen Reiche, die nacheinander auf der historischen Arena erschienen, ha- 1 [Ebenda, 25. Kapitel, S. 539/40.] 2 [Ebenda, 22. Kapitel, S. 534.] 3 [„Jacob Benignus Bossuet, Bischofs von Meaux Einleitung in die allgemeine Geschichte der Welt bis auf Kaiser Carl den Großen.. .„‚ Leipzig 1748, S. 462/63.] 4

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 08.07.2013 ben mit verschiedenen Mitteln zu dem gleichen Ziel beigetragen: dem Wachsen der christlichen Religion und dem Ruhm Gottes. [8] Bossuet eröffnet seinem Schüler, auf Grund der Offenbarung des Heiligen Geistes im hl. Johannes, die dieser in der Apokalypse darlegte, das geheime Gericht Gottes über das Römische Reich und Rom selbst. Auch Bossuet spricht über all das in einer Weise, als seien die Wege des Herrn nicht mehr unerforschlich und – was besonders beachtenswert – als gebe das Studium der historischen Entwicklung ihm nur Gedanken von der Nichtigkeit des Menschenwerks ein. „Wenn Sie also, Monseigneur“, sagt er, „gleichsam in einem Augenblicke, ich will nicht sagen, Könige und Kaiser, sondern die großen Reiche, vor denen der Erdkreis zitterte, die alten und neuen Assyrer, die Meder, die Perser, die Griechen und die Römer nach und nach untergehen und sozusagen, übereinander einstürzen sehen: So lehrt Sie diese Zertrümmerung der Reiche, daß unter den Menschen nichts Beständiges, und die Ungewißheit und beständige Abwechslung das Schicksal aller menschlichen Dinge ist.“ („Discours“, S. 339) 1 Dieser Pessimismus ist einer der bemerkenswertesten Züge der Geschichtsphilosophie Bossuets. Bei einem gründlichen Hineindenken muß man zugeben daß dieser Zug den Grundcharakter des Christentums richtig widerspiegelt. Und in der Tat, das Christentum verspricht dem Gläubigen Trost, ja, sogar viel Trost. Aber: wie tröstet es ihn? Es hält ihn von allem Weltlichen zurück und überzeugt ihn davon, daß auf der Welt alles nichtig ist und daß es für den Menschen nur nach dem Tode ein Glück gibt. (Es ist nicht verwunderlich, daß der Historiker immer wiederholt: Nichtigkeit der Nichtigkeiten.) Ich bitte Sie, meine geehrten Damen und Herren, diesen Zug festzuhalten; in den folgenden Ausführungen wird er uns weiteres Material zu einem Vergleich geben. Ein anderer bemerkenswerter Zug der Geschichtsphilosophie Bossuets ist der, daß er sich in seiner Darlegung der historischen Ereignisse nicht wie der hl. Augustinus damit zufriedengibt, sich auf den Willen Gottes zu berufen, sondern er richtet seine Aufmerksamkeit auf das, was er die besonderen Ursachen der Bewegung der Reiche nennt. „Denn“, sagt er, „eben der Gott, welcher die wunderbare Einrichtung und den ganzen Zusammenhang der Welt gemacht hat, der durch sich selbst allmächtig ist, hat auch der Ordnung wegen haben wollen, daß ein jeder Teil eines so großen Ganzen von dem anderen abhängen sollte. Eben dieser Gott wollte, daß in dem Laufe der menschlichen Dinge eine gewisse Folge und ein gewisses Verhältnis sein möchte: Ich will sagen, daß alle Menschen und Nationen Eigenschaften gehabt haben, die der Höhe gemäß waren, zu welcher sie Gott bestimmte. Es ist auch, gewisse außerordentliche Begebenheiten ausgenommen, in welchen Gott allein seinen [9] Finger zeigen wollte, keine einzige große Veränderung vorgefallen, welche nicht ihre Ursachen in den verflossenen Jahrhunderten gehabt hätte. Und wie in allen Begebenheiten etwas ist, das sie vorbereitet, das die Menschen bestimmt, sie zu unternehmen, und das sie vonstatten gehen läßt: So besteht die wahre Wissenschaft der Geschichte darinnen, daß man zu einer jeden Zeit die geheimen Einrichtungen, welche die Vorbereitungen zu den großen Veränderungen gewesen sind, und die wichtigen Umstände bemerke, welche Ursache wurden, daß sie sich zutrugen.“ („Discours“, S. 359/40.) 2 Somit gibt es nach Bossuet in der Geschichte Ereignisse, in denen sich nur der Finger Gottes offenbart oder, mit anderen Worten, in die Gott unmittelbar eingreift. Solche Ereignisse sind gewissermaßen historische Wunder. Aber in den meisten Fällen werden die Ereignisse einer Periode bei einem gewöhnlichen Ablauf des Lebens der Völker von Ursachen bestimmt, die in der vorangegangenen Periode entstehen Die Aufgabe der echten Wissenschaft ist das Stu- 1 [Bossuet, „Einleitung in die allgemeine Geschichte...“‚ S. 469.] 2 [Bossuet „Einleitung in die allgemeine Geschichte...“, S. 470.] 5

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 08.07.2013<br />

mit derlei irdischen Gaben, daß keiner sich je getraut hätte, sie in solcher Fülle zu wünschen.“<br />

(Bd. 1, S. 328/329.) 1<br />

Wenn schließlich zu erklären ist, warum sich dieser Krieg länger hinzog als jener, so antwortet<br />

uns der hl. Augustinus, Gott habe es so gewollt. „Auf gleiche Weise stehen auch die Zeiten<br />

der Kriege in seiner Macht, und Er endiget die einen früher, die anderen später, je nachdem<br />

Er, nach seinem gerechten Gerichte und seiner Barmherzigkeit, für gut findet, das<br />

menschliche Geschlecht zu züchtigen oder zu trösten.“ (Bd. 1, S. 323.) 2<br />

Sie sehen, der hl. Augustinus bleibt seinem Grundprinzip unverändert treu. Leider genügt es<br />

nicht, einem bestimmten Prinzip treu zu bleiben, wenn man die richtige Erklärung historischer<br />

Ereignisse ermitteln will. Vor allem muß dieses Grundprinzip richtig gewählt sein, und<br />

zum zweiten muß der Geschichtsphilosoph, getreu seinem Grundprinzip, sorgfältig alle Tatsachen<br />

studieren, die der zu erklärenden Erscheinung vorausgegangen sind und sie begleitet<br />

haben. Das Grundprinzip kann und darf bei der Analyse historischer Ereignisse immer nur als<br />

Leitfaden dienen.<br />

Aber die Theorie des hl. Augustinus ist in jeder der beiden angeführten [7] Beziehungen<br />

schwach. Eine Methode der historischen Wirklichkeitsanalyse gibt sie nicht. Was ihr Grundprinzip<br />

betrifft, so bitte ich Sie, folgendes zu beachten: Der hl. Augustinus spricht über das,<br />

was er die Gesetze der Vorsehung nennt, mit einer solchen Überzeugung und in solchen Einzelheiten,<br />

daß man sich beim Lesen unwillkürlich fragt, ob nicht sein Gott vor ihm seine verborgensten<br />

Geheimnisse entschleiert habe. Aber derselbe Autor spricht in demselben Werke<br />

mit der gleichen Überzeugung, seinem „Grundprinzip“ treu, davon, daß die Wege des Herrn<br />

unerforschlich sind. Nun, und wenn das so ist, warum sich dann gegebenenfalls mit der undankbaren<br />

und unfruchtbaren Aufgabe befassen, diese „Wege“ aufzudecken? Und warum<br />

sich bei der Erklärung der Ereignisse im menschlich Leben auf diese „unerforschlichen Wege“<br />

berufen? Der Widerspruch ist offensichtlich, und da er offensichtlich ist, sind selbst Menschen<br />

heißen und unerschütterlichen Glaubens gezwungen, sich von der theologischen Erklärung<br />

der Geschichte abzuwenden, wenn sie nur ein wenig der Logik Rechnung tragen und<br />

wenn sie nicht bestätigen wollen, daß das Unerforschliche, d. h. das, was nicht zu erklären<br />

und zu verstehen ist, alles erklärt und verständlich macht.<br />

Gehen wir zu Bossuet (1627-1704) über. Ähnlich wie der hl. Augustinus steht auch Bossuet<br />

bei der Deutung der Geschichte auf theologischem Standpunkt. Er ist überzeugt, daß die historischen<br />

Schicksale der Völker oder, wie er sich ausdrückt, die Bewegungen der Reiche<br />

(révolutions des empires) durch die Vorsehung gelenkt werden. „Vors erste“, sagt er im<br />

„Discours sur l’histoire universelle“, „haben diese Reiche gemeiniglich eine notwendige<br />

Verbindung mit der Geschichte des Volkes Gottes. Gott hat sich der Assyrer und Babylonier<br />

bedient, dieses Volk zu bestrafen; er brauchte die Perser, die Juden wieder in ihr Land zu<br />

bringen; den Alexander und seine ersten Nachfolger, um sie zu beschützen; den Antiochus<br />

Epiphanes und seine Nachfolger, um ihre Geduld zu üben; und die Römer, um ihre Freiheit<br />

gegen die Könige in Syrien zu verteidigen, welche nur auf den Umsturz derselben bedacht<br />

waren. Die Juden haben unter der Gewalt der Römer ihre obrigkeitliche Gewalt bis auf Jesum<br />

Christum behauptet. Nachdem sie aber ihn verkannt und gekreuzigt haben, so gaben eben<br />

diese Römer ihre Macht dazu her, Gott an diesem Volke zu rächen, und dieses undankbare<br />

Volk auszurotten usw. („Discours“ ‚ Ausgabe Garniers frères, p. 334.) 3 Mit einem Wort, alle<br />

Völker und alle großen Reiche, die nacheinander auf der historischen Arena <strong>erschien</strong>en, ha-<br />

1 [Ebenda, 25. Kapitel, S. 539/40.]<br />

2 [Ebenda, 22. Kapitel, S. 534.]<br />

3 [„Jacob Benignus Bossuet, Bischofs von Meaux Einleitung in die allgemeine Geschichte der Welt bis auf<br />

Kaiser Carl den Großen.. .„‚ Leipzig 1748, S. 462/63.]<br />

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