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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 20.07.2013 sehr reifen Jungfrau Jewgenija Wassiljewna Stawrochowa. Dieser Ehe entsproß die Tochter Nadja, die auch die Hauptperson der uns interessierenden Erzählung ist. Stepan Alexejewitsch und seine Gemahlin waren sehr gute und milde Menschen. Sogar sein Schoßhündchen „bestrafte“ der gute Herr „nicht anders als indem er den Ärmel des Schlafrocks herunterließ und es ganz sanft damit schlug“, sagt der Verfasser. Ihre liebe Nadja zeichnete sich ebenfalls durch einen sehr gutmütigen Charakter aus. Man hätte meinen können, in dieser Familie seien alle Voraussetzungen vorhanden gewesen, in Frieden und Eintracht zu leben. In Wirklichkeit kam es jedoch anders. Es stellte sich heraus, daß die Güte Nadjas von ganz anderer Art war als die Güte ihrer Eltern, und dieser Umstand führte in verhängnisvoller Weise zu einem seltsamen Familienzwist. Nadjas Gouvernante, M lle Joséphine, nahm gewisse Eigenheiten im Charakter ihres Zöglings als erste wahr. „Elle a des idées, cette enfant, oh, mais des idées!“ [„Ideen hat dies Kind, na, aber Ideen.“] sagte die Französin. Frau Wolkow bestätigte die Richtigkeit dieser Beobachtung. Auch sie war häufig bestürzt über die „Ideen“ ihrer Tochter. [556] Worin bestanden nun diese kindlichen „Ideen“? Natürlich in nichts Umstürzlerischem. Nadja war nur bestrebt, die Ideen des Guten und der Gerechtigkeit, die ihr die eigenen Eltern sorgfältig eingeflößt hatten, in der Praxis anzuwenden. Sie hatte nicht im geringsten daran gedacht, daß das Hauptmerkmal dieser Ideen in den Augen der Erwachsenen ihre völlige praktische Unanwendbarkeit war. Damit sich Nadja, weil sie so allein war, nicht langweile, hatte Stepan Alexejewitsch beschlossen, die Tochter einer armen Gutsbesitzersfrau welche die Last einer vielköpfigen Familie zu tragen hatte, „für ganz“ zu sich ins Haus zu nehmen. Wenn die Gegenwart Anjas (so hieß die lebende Puppe, die Wolkow seiner Tochter beschafft hatte) Nadja einerseits Zerstreuung bringen konnte, war sie anderseits auch die Veranlassung, daß diese nachdenklich gestimmt wurde. In der ersten Zeit ihrer Anwesenheit bei Wolkows ordnete sich Anja einfach in allem Nadja unter. „Willst du Puppen spielen?“ fragte diese. „Wollen Sie?“ – „Ja, ich will schon.“ – „Nun, dann will ich auch.“ – „Willst du lesen?“ – „Wollen Sie auch lesen?“ – „Nun, dann lese ich auch“, usw. Diese für Nadja unfaßbare Unterwürfigkeit ärgerte sie so, daß sie Anja einmal sogar schlug. „Warum tust du denn immer so, wie ich will, warum hörst du immer auf mich, du ekelhaftes Ding“, rief sie „mit tränenerstickter Stimme“. Die mittlerweile herbeigeeilte Gouvernante stellte die Ordnung wieder her, indem sie jedes der beiden Mädchen in ein anderes Zimmer steckte. Die jähzornige Nadja verspürte bald Reue, aber sie war lange Zeit starrköpfig und sagte immer wieder: „Ganz recht geschieht ihr, dem ekelhaften Ding, ganz recht geschieht ihr, warum ist sie so unterwürfig, diese Jesuitin!“ Indes, in der Dämmerung schlich sie sich in das Kämmerlein ihrer Freundin, und dort kam es zwischen den beiden Mädchen, die gleichaltrig waren, aber bisher unter gänzlich verschiedenen Bedingungen gelebt hatten, zu einer überaus interessanten Aussprache. „‚Anja, hör auf, verzeih mir‘, sagte Nadja, ‚ich bin ja so garstig! Aber warum machst du denn immer das, was ich will?‘ ‚Mama hat gesagt, ich muß immer nur das tun, was Sie wollen, sonst behält man mich nicht und schickt mich wieder nach Hause.‘ ‚Und möchtest du nicht wieder zu den Deinen zurück?‘ fragte Nadja. ‚Du hast doch dort auf dem Hofe deine Mutter, deine Schwestern und Brüder; hast du sie nicht gern?‘ Anja schluchzte plötzlich laut auf...“ 1 1 Hier bricht das Manuskript ab. Red. L. N. 2

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 20.07.2013 [557] Gl. I. Uspenski* (S. M. Krawtschinski gewidmet) I. Die Abschaffung der Leibeigenschaft stellte die denkenden Menschen in Rußland vor eine Reihe von Fragen, die nicht gelöst werden konnten, wenn man sich nicht zuvor Rechenschaft darüber ablegte, wie unser Volk lebte, was es dachte und wonach es strebte. Alle unsere friedlichen und revolutionären, legalen und illegalen Männer des öffentlichen Lebens begriffen, daß der Charakter ihrer Tätigkeit durch den Charakter und die Form des Volkslebens bestimmt werden mußte. Daraus entstand das natürliche Bestreben, das Volk zu studieren, sich über seine Lage, seine Weltanschauung und seine Bedürfnisse Klarheit zu verschaffen. Man begann, das Volksleben nach allen Seiten hin zu erforschen. Als die Ergebnisse dieser Untersuchung veröffentlicht wurden, fanden sie beim Publikum größtes Interesse und größte Anteilnahme. Sie wurden gelesen und wieder gelesen, man gründete auf sie alle möglichen „Programme“ der praktischen Tätigkeit. Am geschäftigsten und am meisten ereifert zeigte sich hier unser Rasnotschinze, unser „denkender Proletarier“‚ der sich stolz und mit einer gewissen ergötzlichen Ausschließlichkeit als „Intelligenz“ bezeichnete. Gebildete Rasnotschinzen gab es schon zur Zeit der Leibeigenschaft, aber damals war das nur eine recht kleine Gruppe von Menschen, die es zwar zu einer abstrakt negativen Haltung Basarowscher Prägung bringen, aber gar nicht daran denken konnten, sich irgendwie als „Partei“ zu konstituieren. Damals war das Bestehen irgendwelcher Parteien, literarische ausgenommen, überhaupt unmöglich. Mit der Abschaffung der Leibeigenschaft wurde die Sache anders. Die Zerschlagung alter ökonomischer Einrichtungen vergrößerte in gewaltigem Ausmaß die Zahl des denkenden Proletariats und weckte in ihm neue Hoffnungen und neue Forderungen. Diese Forderungen blieben meistens unberücksichtigt. Die empörende [558] politische Ordnung, die ihrem Wesen nach jeder nichtbeamteten „Intelligenz“ feindlich gegenüberstand, erweckte in unserem gebildeten Proletariat mehr und mehr den oppositionellen Geist, während die Unbestimmtheit und Zweideutigkeit seiner Lage zwischen den höheren Klassen einerseits und dem Volke anderseits dazu führten, daß es sich ernstlich mit der Frage beschäftigte, was zu tun sei. Es ist daher nicht verwunderlich, daß gerade unser Rasnotschinze mit solch feurigem Eifer daran ging, das Leben des Volkes auf alle nur mögliche Weise zu erforschen. Der eine, entschlossenere Teil dieser eigentümlichen Proletarier der unproduktiven (im ökonomischen Sinne dieses Wortes) Arbeit suchte im Volk Halt und Stütze für seine oppositionellen und revolutionären Bestrebungen; der andere, friedliche Teil betrachtete das Volk einfach als das Milieu, in dem er leben und arbeiten konnte, ohne auf seine Menschenwürde verzichten und vor einer Obrigkeit sich untertänig beugen zu müssen. Sowohl für die einen wie für die anderen war es unabdinglich, das Volk kennenzulernen. Und da liest nun unser Rasnotschinze nicht nur gierig alles, was an Untersuchungen über das Leben des Volkes geschrieben wird, sondern gerade er ist es, der diese Untersuchungen hauptsächlich schreibt. Er lernt den städtischen Handwerker und Kleinbürger kennen, er studiert das Gewohnheitsrecht der Bauern, untersucht die Feldgemeinschaft und die Heimindustrie, er schreibt die Sagen, Lieder und Sprichwörter des Volkes nieder; er führt theologische Gesprä- * Anmerkungen zu: G. I. Uspenski (S. 557-618) Der Aufsatz wurde erstmals gedruckt in dem literarisch-politischen Sammelband „Sozialdemokrat“ (1888, Genf, Heft 1, S. 28-95). Hier drucken wir den Text der Gesamtausgabe der Werke (Bd. X, S. 9-65). Im Unterschied zu seinem früheren Aufsatz „Worum geht der Streit?“ (1878), wo Plechanow Uspenski vom volkstümlerischen Standpunkt analysierte, bringt er hier eine marxistische Analyse der Werke dieses Schriftstellers. 1

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 20.07.2013<br />

sehr reifen Jungfrau Jewgenija Wassiljewna Stawrochowa. Dieser Ehe entsproß die Tochter<br />

Nadja, die auch die Hauptperson der uns interessierenden Erzählung ist.<br />

Stepan Alexejewitsch und seine Gemahlin waren sehr gute und milde Menschen. Sogar sein<br />

Schoßhündchen „bestrafte“ der gute Herr „nicht anders als indem er den Ärmel des Schlafrocks<br />

herunterließ und es ganz sanft damit schlug“, sagt der Verfasser. Ihre liebe Nadja<br />

zeichnete sich ebenfalls durch einen sehr gutmütigen Charakter aus. Man hätte meinen können,<br />

in dieser Familie seien alle Voraussetzungen vorhanden gewesen, in Frieden und Eintracht<br />

zu leben. In Wirklichkeit kam es jedoch anders. Es stellte sich heraus, daß die Güte<br />

Nadjas von ganz anderer Art war als die Güte ihrer Eltern, und dieser Umstand führte in verhängnisvoller<br />

Weise zu einem seltsamen Familienzwist.<br />

Nadjas Gouvernante, M lle Joséphine, nahm gewisse Eigenheiten im Charakter ihres Zöglings<br />

als erste wahr. „Elle a des idées, cette enfant, oh, mais des idées!“ [„Ideen hat dies Kind, na,<br />

aber Ideen.“] sagte die Französin. Frau Wolkow bestätigte die Richtigkeit dieser Beobachtung.<br />

Auch sie war häufig bestürzt über die „Ideen“ ihrer Tochter.<br />

[556] Worin bestanden nun diese kindlichen „Ideen“? Natürlich in nichts Umstürzlerischem.<br />

Nadja war nur bestrebt, die Ideen des Guten und der Gerechtigkeit, die ihr die eigenen Eltern<br />

sorgfältig eingeflößt hatten, in der Praxis anzuwenden. Sie hatte nicht im geringsten daran<br />

gedacht, daß das Hauptmerkmal dieser Ideen in den Augen der Erwachsenen ihre völlige<br />

praktische Unanwendbarkeit war.<br />

Damit sich Nadja, weil sie so allein war, nicht langweile, hatte Stepan Alexejewitsch beschlossen,<br />

die Tochter einer armen Gutsbesitzersfrau welche die Last einer vielköpfigen Familie zu<br />

tragen hatte, „für ganz“ zu sich ins Haus zu nehmen. Wenn die Gegenwart Anjas (so hieß die<br />

lebende Puppe, die Wolkow seiner Tochter beschafft hatte) Nadja einerseits Zerstreuung bringen<br />

konnte, war sie anderseits auch die Veranlassung, daß diese nachdenklich gestimmt wurde.<br />

In der ersten Zeit ihrer Anwesenheit bei Wolkows ordnete sich Anja einfach in allem Nadja<br />

unter. „Willst du Puppen spielen?“ fragte diese. „Wollen Sie?“ – „Ja, ich will schon.“ – „Nun,<br />

dann will ich auch.“ – „Willst du lesen?“ – „Wollen Sie auch lesen?“ – „Nun, dann lese ich<br />

auch“, usw. Diese für Nadja unfaßbare Unterwürfigkeit ärgerte sie so, daß sie Anja einmal<br />

sogar schlug. „Warum tust du denn immer so, wie ich will, warum hörst du immer auf mich,<br />

du ekelhaftes Ding“, rief sie „mit tränenerstickter Stimme“. Die mittlerweile herbeigeeilte<br />

Gouvernante stellte die Ordnung wieder her, indem sie jedes der beiden Mädchen in ein anderes<br />

Zimmer steckte. Die jähzornige Nadja verspürte bald Reue, aber sie war lange Zeit<br />

starrköpfig und sagte immer wieder: „Ganz recht geschieht ihr, dem ekelhaften Ding, ganz<br />

recht geschieht ihr, warum ist sie so unterwürfig, diese Jesuitin!“ Indes, in der Dämmerung<br />

schlich sie sich in das Kämmerlein ihrer Freundin, und dort kam es zwischen den beiden<br />

Mädchen, die gleichaltrig waren, aber bisher unter gänzlich verschiedenen Bedingungen gelebt<br />

hatten, zu einer überaus interessanten Aussprache.<br />

„‚Anja, hör auf, verzeih mir‘, sagte Nadja, ‚ich bin ja so garstig! Aber warum machst du denn<br />

immer das, was ich will?‘<br />

‚Mama hat gesagt, ich muß immer nur das tun, was Sie wollen, sonst behält man mich nicht<br />

und schickt mich wieder nach Hause.‘<br />

‚Und möchtest du nicht wieder zu den Deinen zurück?‘ fragte Nadja. ‚Du hast doch dort auf<br />

dem Hofe deine Mutter, deine Schwestern und Brüder; hast du sie nicht gern?‘ Anja<br />

schluchzte plötzlich laut auf...“ 1<br />

1 Hier bricht das Manuskript ab. Red. L. N.<br />

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