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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 20.07.2013<br />

bourgeoishafte Gestalt des berühmten Predigers vor sich sah, „der gar nicht danach aussah,<br />

als ob er fastete“, verspürte sie sofort eine gewisse Enttäuschung. Und als er in gebrochenem<br />

Französisch über das Thema zu sprechen begann: „Le Christ est entre nous, ouvrez votre<br />

cœur et il entrera“ [„Christus ist mitten unter uns, öffnet Eure Herzen und er ziehet ein.“],<br />

indem er lächelnd mit beiden Händen zeigte, wie man sein Herz öffnen soll, damit Christus<br />

dort eintrete, und seine gutmütigen Augen über die Versammelten schweifen ließ, als wollte<br />

er sagen: Seht, wie einfach das ist, da kam Nadja zu der Überzeugung, daß er ein Herz aus<br />

Stein habe. Die Beredsamkeit des Mr. K. machte auf sie nicht den geringsten Eindruck. Zu<br />

allem Unglück fragte eine alte Dame, die offenbar sehr viel in ihrem Leben durchgemacht<br />

hatte, den Prediger ganz unerwartet, was wir mit den auf uns einstürmenden Versuchungen<br />

machen sollen. Mr. K., der darauf gar nicht gefaßt war, fuchtelte nur mit den Armen in der<br />

Luft herum, die Anwesenden begannen laut zu lachen, und die arme Nadja brach beinahe in<br />

Tränen aus. An diesem Abend war sie um eine weitere Illusion ärmer geworden.<br />

Um so unerträglicher wurde ihre moralische Verfassung. Sie begann, ganz verbittert zu werden.<br />

Sogar ihrer Mutter gegenüber (der alte Wolkow war um diese Zeit schon gestorben)<br />

empfand sie jenes gemischte Gefühl von „Haß und Mitleid“, wie Stern sich ausdrückt, das<br />

nur zwischen Menschen möglich ist, die einander sehr nahe stehen. „Nadja gab ihr an irgend<br />

etwas die Schuld, obwohl sie die Schuld der Mutter nicht namentlich hätte bezeichnen und<br />

formulieren können. Aber war nicht sie es, die sie in den Zauberkreis dieses leeren Lebens<br />

eingeschlossen hatte, das niemand und zu nichts nutz war? Und zugleich mit ihr beschuldigte<br />

und haßte sie ihre ganze Umgebung. Dieses Stogowo, das ihr früher so lieb gewesen war, wie<br />

verfluchte und haßte sie es! Wie in einem Gefängnis war sie darin von [550] allen Seiten eingeschlossen<br />

worden, und sie, mit ihrem lebensprühenden jugendlichen Drang, wird von ihm<br />

umklammert. Sie haßte diese Bäume in dem uralten Garten! Früher hatte ihr geschienen, daß<br />

sie flüsternd zu ihr von der Zukunft sprachen, aber sie können nichts, als nur alte Sagen erzählen.<br />

Sie haßt dieses Plätschern der Bäche zur Frühlingszeit! Ihr Murmeln hat ihr nichts zu<br />

sagen, und sie führen sie nicht mit sich fort zu den großen freien Strömen! Sie haßt dieses<br />

Haus, dieses Zauberschloß der schlafenden Prinzessin, alles war darin in tiefen Schlaf versunken,<br />

und schläft seit Jahrzehnten, ohne je zu erwachen, und sie muß doch leben und wirken!“<br />

Sie war dem Selbstmord nahe.<br />

Schließlich fügte es der Zufall, daß sie mit Revolutionären zusammentraf. Die Medwedews –<br />

Mann und Frau – hatten in der Nähe von Stogowo ein kleines Gut gepachtet und lebten dort<br />

bereits seit etwa anderthalb Jahren. Was für eine Tätigkeit sie dort ausübten, sagt der Verfasser<br />

nicht, aber es ist auch nicht wichtig. Von Interesse ist hier die Feststellung, daß die Medwedews<br />

durchaus keine Ähnlichkeit hatten mit den Mißgeburten, welche von unseren reaktionären<br />

Belletristen als Revolutionäre hingestellt werden. „Die Medwedews, beide schön,<br />

energisch, aber bescheiden in ihren Manieren, machten auf alle einen angenehmen Eindruck“<br />

(ich bitte Sie, Herr Berg, wie hört sich denn das an!). In den Beziehungen Medwedews zu<br />

Nadja, die er natürlich auf seine Seite zu ziehen bestrebt war, ist auch nicht die geringste Spur<br />

des herzlosen Zynismus zu finden, mit dem, wie die Herrschaften vom Schlage eines Markewitsch<br />

versichern, die „Nihilisten“ ihre jungen Adepten traktieren, besonders wenn diese dem<br />

schönen Geschlecht angehören. Er zeigt ihr gegenüber ein zartes und feines Mitgefühl. Nadja<br />

ihrerseits schließt sich ihren neuen Bekannten gern an, die ihr „eine neue Welt aufrüttelnder<br />

Ideen“ erschließen, und allmählich reift in ihr der Entschluß heran, das Elternhaus zu verlassen<br />

und sich der revolutionären Tätigkeit zu widmen. Nicht ohne starken Kampf in seinem<br />

Innern entschließt sich Medwedew, sie von zu Hause wegzubringen, aber es gibt keinen anderen<br />

Ausweg. „Ich bringe dir nichts als Kummer“, schrieb Nadja ihrer Mutter in dem Brief,<br />

den sie vor ihrer Flucht für sie zurückgelassen hatte, „und ich vergehe selbst vor Gram. Lebe<br />

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