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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

Bestätigung dieser Auffassung erblicken. Es ist noch keinem von ihnen jemals eingefallen,<br />

die eine oder andere der allgemein bekannten Eigenschaften der menschlichen Natur zu bestreiten<br />

oder sich in irgendwelche willkürliche Auslegungen hierüber einzulassen. Sie haben<br />

nur gesagt, daß diese Natur, wenn sie unveränderlich ist, den historischen Prozeß nicht erklärt,<br />

der doch die Summe der sich ständig verändernden Erscheinungen ist, und daß, wenn<br />

sie selbst sich zusammen mit dem Gang der historischen Entwicklung verändert, offenbar<br />

irgendeine äußere Ursache ihrer Veränderung da sein muß. Im einen wie im anderen Falle<br />

geht die Aufgabe des Historikers und Soziologen folglich weit über die Grenzen einer Erörterung<br />

der Eigenschaften der menschlichen Natur hinaus.<br />

Nehmen wir meinetwegen eine solche Eigenschaft der menschlichen Natur wie den Nachahmungstrieb.<br />

Tarde, der über die Gesetze der Nachahmung eine sehr interessante Untersuchung<br />

geschrieben hat, erblickt darin gewissermaßen die Seele der Gesellschaft. Nach seiner<br />

Definition ist jede soziale Gruppe eine Vereinigung von Wesen, die einander teils in einer<br />

bestimmten Zeit nachahmen, teils früher ein und dasselbe Vor-[53]bild nachgeahmt haben.<br />

Daß die Nachahmung in der Geschichte aller unserer Ideen, Geschmacksrichtungen, der Mode,<br />

der Gewohnheiten eine sehr große Rolle gespielt hat, unterliegt nicht dem geringsten<br />

Zweifel. Schon die Materialisten des vergangenen Jahrhunderts haben auf ihre ungeheure<br />

Rolle hingewiesen: der Mensch besteht ganz aus Nachahmung, sagte Helvétius. Aber ebensowenig<br />

kann der Umstand einem Zweifel unterliegen, daß Tarde bei der Untersuchung der<br />

Gesetze der Nachahmung von eine falschen Grundlage ausging.<br />

Als die Restauration der Stuarts in England die Herrschaft der alten Adelsschicht vorübergehend<br />

wiederherstellte, legte dieser Adel nicht nur nicht das geringste Bestreben an den Tag,<br />

die extremen Vertreter des revolutionären Kleinbürgertums, die Puritaner, nachzuahmen,<br />

sondern er zeigte die stärkste Neigung zu Gepflogenheiten und Geschmacksrichtungen, die<br />

den puritanischen Lebensregeln direkt entgegengesetzt waren. Die puritanische Sittenstrenge<br />

machte der unglaublichsten Zügellosigkeit Platz. Damals gehörte es zum guten Ton, das zu<br />

lieben und zu tun, was bei den Puritanern verboten war. Die Puritaner waren sehr religiös; die<br />

vornehme Welt der Restaurationszeit brüstete sich mit ihrer Gottlosigkeit. Die Puritaner verfolgten<br />

Theater und Literatur; ihr Sturz gab das Signal zu einer neuen und größeren Begeisterung<br />

für Theater und Literatur. Die Puritaner trugen kurze Haare und verurteilten die Eleganz<br />

der Kleidung; nach der Restauration tauchten lange Perücken und prunkvolle Gewänder auf.<br />

Die Puritaner untersagten das Kartenspiel; nach der Restauration wurde das Kartenspiel eine<br />

Leidenschaft usw. usw. 1 Mit einem Wort, hier war nicht die Nachahmung, sondern der Widerspruch<br />

am Werke, der offensichtlich ebenfalls in den Eigenschaften der menschlichen<br />

Natur wurzelt. Aber warum trat denn der in den Eigenschaften der menschlichen Natur wurzelnde<br />

Widerspruch im England des 17. Jahrhunderts mit solcher Heftigkeit in den Wechselbeziehungen<br />

des Bürgertums und des Adels in Erscheinung? Weil es das Jahrhundert der<br />

äußersten Verschärfung des Kampfes zwischen Adel und Bürgertum oder, besser gesagt, dem<br />

ganzen „dritten Stand“ war. Wir können also sagen, daß der Nachahmungstrieb, obgleich er<br />

im Menschen zweifellos in starkem Maße vorhanden ist, nur unter gewissen gesellschaftlichen<br />

Verhältnissen in Erscheinung tritt, zum Beispiel unter solchen Verhältnissen, wie sie in<br />

Frankreich im 17. Jahrhundert bestanden, wo die Bourgeoisie gern, wenn auch ohne Erfolg,<br />

den Adel nachahmte: denken Sie an Molières „Bürger als Edelmann“. Aber unter anderen<br />

gesellschaftlichen Beziehungen ver-[54]schwindet der Nachahmungstrieb und macht dem<br />

entgegengesetzten Trieb Platz, den ich einstweilen den Widerspruchstrieb <strong>nennen</strong> will.<br />

Übrigens nein, ich drücke mich sehr unkorrekt aus. Der Nachahmungstrieb ist bei den Eng-<br />

1 Vgl. Alexandre Beljame, „Le Public et les Hommes de lettres en Angleterre du dix-huitième siècle“, Paris<br />

1881, pp. 1-10. Vgl. auch Taine, „Histoire de la littérature anglaise“, t. II, p. 443.<br />

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