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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 20.07.2013<br />

[545] Aber was gingen denn Nadja solche Ungerechtigkeiten an? M lle Joséphine hatte recht:<br />

das Kind war seltsamerweise auf verdrehte „Ideen“ verfallen.<br />

Anja fährt zu ihrer Mutter auf Besuch. Nadja hat die Erlaubnis bekommen, mitzufahren. Diese<br />

Reise versetzt sie in Entzücken. Auf dem armen Hof, der Anjas Mutter gehört, fühlt sich<br />

Nadja ganz und gar frei. Fröhlich läuft sie auf den Feldern umher, sie genießt die sauren Fladen<br />

mit Hanfsamen und hilft den Erwachsenen zusammen mit anderen Kindern beim Kohlpflanzen.<br />

Aber schon am Abend des ersten Tages erfährt sie starke Eindrücke, die auf das<br />

lebhafte und für Eindrücke empfängliche Mädchen besonders stark wirken, weil sie so neu<br />

und unerwartet kommen. Zu Anja kommt ihre Dorffreundin Parascha, die Tochter der „Häuslerin“<br />

Axinja, und berichtet mit trauriger Schicksalsergebenheit von all dem Unheil, das sie<br />

als Bauernmädchen erfahren mußte.<br />

„Und bei uns, meine Liebe – hast du’s gehört?“ begann Parascha unvermittelt, „ist ein solches<br />

Unglück passiert“ – das heißt, es war alles bis auf den Boden abgebrannt.<br />

Sie begann langsam und mit allen Einzelheiten zu erzählen, wie in der Nacht, am dritten Weihnachtsfeiertag,<br />

in drei Hütten neben ihnen Feuer ausgebrochen war, wie das Feuer auf ihr Dach<br />

übergegriffen hatte, wie sie und ihre Mutter vom Rauch aufgewacht waren, wie sie das kleine<br />

Brüderchen Lissutka kaum aus dem Schlaf hatten wecken können und wie sie dann im bloßen<br />

Hemd auf die Straße hinausgerannt waren. Dann begann sie der Reihe nach alles zu erzählen,<br />

was sie nach dem Brand auszustehen gehabt hatten: das Herumziehen von Hütte zu Hütte, zu<br />

fremden Leuten, um dort um Christi willen Aufnahme zu finden, das Herumbetteln um ein bißchen<br />

Essen. Das Bild all der Leiden, das sich nach der Schilderung dieses ernsten, gramerfüllten<br />

Mädchens ergab, war wirklich ergreifend. Zu allem Unglück habe sich „die Mutter, ich<br />

weiß gar nicht wie“, die Hände ganz verbrannt, und sie tun ihr immer noch weh, sie könne fast<br />

nichts arbeiten, und zur Arbeit sei nur noch sie da, die dreizehnjährige Parascha. „Den Lissutka<br />

wollten wir gern als Hirtenbub irgendwo hintun, da hätte er wenigstens sein Essen gehabt...<br />

Weißt du, der Kleine tut mir so schrecklich leid: seine Joppe ist verbrannt – ein Bauer hat ihm<br />

dann um Christi willen eine gegeben, ja, weißt du, eine ganz zerlumpte; da kommt manchmal<br />

der Kleine ganz naß zurück und zittert... bis zur Frühe wird er nicht trocken, bis die Sonne ihn<br />

dann trocknet. Ja, meine Liebe, es ist ein hartes Leben auf der Welt.“<br />

„Nadja hatte zitternd zugehört, wie Parascha erzählte. Mein Gott, was es doch für unglückliche<br />

Menschen gibt. Und sie, Nadja, lebt so bequem und behaglich, muß nicht frieren, kann<br />

essen, soviel sie will, und braucht [546] nicht zu arbeiten, sie hat alles. Soviel Kleider und<br />

Wäsche!“ Und Nadja wird in ihren verdrehten Ideen noch mehr bestärkt, sie kommt, wie<br />

schon immer, zu dem Schluß, daß ihr eigener Wohlstand auf Ungerechtigkeit gegründet ist.<br />

Mit vierzehn Jahren beschließt Nadja, keine feinen Kleider mehr zu tragen. Dieser „verdrehte“<br />

Entschluß wurde von ihr unter Umständen gefaßt, die ein anderes, verständigeres Mädchen<br />

veranlaßt hätten, sich nur von edlem Stolz und dem berechtigten Bewußtsein der eigenen<br />

Vortrefflichkeit durchdringen zu lassen.<br />

Im herrschaftlichen Garten der Wolkows arbeiteten die Bauern„mägde“. Nadja hatte von der<br />

Verwalterin Matrjona einen „riesigen Krug Milch“ gemaust und begann, die Arbeiterinnen<br />

damit zu bewirten.<br />

„‚Schau, wie gut die ist‘, sagte eine der Mägde.<br />

‚Die ist ja auch reich‘, entgegnete eine andere, ‚das ist für die gar nichts.‘<br />

‚Ist gar nichts! Ich will dir was sagen, in der Stadt muß man für so einen Krug Milch zwanzig<br />

Kopeken zahlen!‘“<br />

Inzwischen betrachtete eine dritte Magd, neben die sich Nadja hingesetzt hatte, Nadjas Kleid.<br />

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