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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

einer derartigen Dichtkunst, von solchen Liedern nur der Herrenadel entzückt sein konnte<br />

und daß die Bauern, dieselben „Menschen“, die „vor den dahersprengenden Kriegsleuten<br />

davonrennen“ mußten, kaum daran Gefallen finden konnten. Diese „Menschen“ hatten ihre<br />

eigenen Lieder, ihre eigenen Sagen und Überlieferungen, die in der höheren Gesellschaftsklasse<br />

nichts als Verachtung erweckten.<br />

Ein anderes Beispiel. Als eines der besten Werke unseres russischen Dichters A. S. Puschkin<br />

gilt mit Recht der Roman in Versen „Eugen Onegin“. Dieser Roman ist wunderbar geschrieben,<br />

die Verse Puschkins sind ausgezeichnet. Aber die Hauptperson des Romans – sein Held<br />

– ist ein großer Herr (eben dieser Onegin), von dessen Charakter ihr, die ihr Menschen der<br />

schweren unfreien Arbeit seid, euch kaum auch nur einen Begriff machen könnt. Das ist –<br />

wenn ihr es wissen wollt – ein „grämlicher“, „überdrüssiger“ Mensch, das heißt einer, der<br />

einfach zu gar nichts Lust hat oder fähig ist und daher nicht weiß, was er vor Langeweile anfangen<br />

soll. Aus Langeweile treibt er sich in der weiten Welt umher, aus Langeweile macht<br />

er jungen Damen den Hof, aus Langeweile stellt er sich zum Duell. Dieser Roman hat seinerzeit<br />

viel Aufsehen erregt, und auch heutzutage wird er von Menschen der höheren Gesellschaftsklassen<br />

noch mit Vergnügen gelesen. Wenn aber jemand, der die ganze Woche hindurch<br />

in der Fabrik gearbeitet hat, in seiner Freizeit am Sonntag danach greift, so werden ihn<br />

die Abenteuer des „überdrüssigen“ großen Herrn wohl kaum interessieren. Dieser Jemand hat<br />

viel echten, nicht eingebildeten Kummer erlebt, aber „Überdruß“ und „Grämlichkeit“ hat er<br />

ebensowenig gekannt, wie diese wunderlichen Dinge den leibeigenen Bauern bekannt waren,<br />

von denen der Herr Gutsbesitzer Onegin die jährlichen Abgaben erhielt. Der Arbeiter kann<br />

einfach den inneren Gehalt dieses Romans nicht verstehen. 1*<br />

Nehmen wir ein drittes Beispiel, das uns noch näher liegt. Unsere sogenannte Intelligenz<br />

schwärmt sehr für die Gedichte N. A. Nekrassows. Diese Gedichte sind wirklich gar nicht<br />

schlecht, obwohl Nekrassow kein [534] großes Talent besaß. Und wiederum werden euch, die<br />

ihr von eurer Hände Arbeit lebt, viele der Gedichte Nekrassows unverständlich sein. Und nicht<br />

deshalb unverständlich, weil ihr weniger gebildet seid als die „Intelligenz“. Nein, dieser Unterschied<br />

gründet sich auf die Besonderheiten eurer gesellschaftlichen Lage. In seinen Dichtungen<br />

stellt Nekrassow häufig jene Leiden des „Intellektuellen“ dar, die dem Bewußtsein seiner<br />

„Schuld gegenüber dem Volke“ entspringen. Woher kam dieses Bewußtsein, woher stammen<br />

die dadurch verursachten Leiden? Die Sache ist, allgemein gesprochen, leicht verständlich.<br />

Jahrhundertelang haben die höheren und mittleren Gesellschaftsklassen – die Beamtenschaft,<br />

der Adel, die Geistlichkeit, die Kaufmannschaft – nichts anderes getan als das Volk zu unterdrücken,<br />

jahrhundertelang haben Not und Unglück des Volkes bei ihnen nicht das geringste<br />

Mitgefühl erregt. Aber mit der Entwicklung der Bildung – aus Gründen, über die zu sprechen<br />

Nach Mitteilung von J. S. Kotz hat Plechanow in einem seiner Notizhefte (Nr. 45) über die Poesie der Troubadours<br />

folgende Notiz gemacht: „Aus dem kriegerischen Lied des Troubadours Bertran de Born, Vicomte von<br />

Hautefort: ‚Ein Mensch wird nur danach geschätzt, wieviel Schläge er hinnehmen mußte und wieviel er selbst<br />

ausgeteilt hat.‘<br />

Dieser Ritter, der Zeitgenosse von Richard Löwenherz, dem ‚lieb ist die warme Frühlingszeit, wo die Blätter<br />

und Blumen sprießen, lieb ist, das Gezwitscher der Vögel und ihren fröhlichen Gesang zu hören, der in den<br />

Zweigen erklingt‘, gesteht, daß es ihm ‚gefällt, wenn Menschen und Herden vor den dahersprengenden Kriegsleuten<br />

davonrennen‘, daß ‚ein getöteter besser ist als ein lebendiger Besiegter‘, daß ‚Essen, Trinken, Schlafen –<br />

nichts für ihn einen solchen Reiz hat wie der Anblick der Getöteten, in denen die Waffe steckt, die sie durchbohrt<br />

hat‘“. („Geschichte der Eroberung Englands durch die Normannen“ von August Thierry, t. II, Pièces justificatives<br />

in Buch 8, Stück Nr. 2, S. 342-344. „Literarischer Nachlaß G. W. Plechanows“, S. 284.)<br />

1* Hier hat sich Plechanow in der Bestimmung der kulturellen Interessen des Proletariats sicherlich schwer geirrt.<br />

Im Jahre 1917 hat Plechanow, zurückkommend auf seine Rede beim Begräbnis Nekrassows im Jahre 1877,<br />

in der er eine einseitig scharfe Einschätzung der Dichtkunst Puschkins ausgesprochen hatte, diesen seinen groben<br />

Irrtum selbst verurteilt. (Siehe Näheres hierüber in diesem Band in Plechanows Aufsatz „Das Begräbnis<br />

Nekrassows“, S. 728-732.)<br />

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