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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

[532]<br />

Einige Worte an die Arbeiterleser*<br />

Es ist eine altbekannte Tatsache, daß jedes Volk seine eigene Dichtkunst hat und daß seine<br />

dichterischen Erzeugnisse einen um so tieferen Inhalt aufweisen, je entwickelter und gebildeter<br />

ein Volk ist. Mit dem gleichen Recht kann man sagen, daß jede Gesellschaftsklasse ebenfalls<br />

ihre eigene Dichtkunst hat, in die sie einen besonderen Inhalt hineinlegt. Und darüber<br />

braucht man sich auch gar nicht zu verwundern, denn jede Gesellschaftsklasse befindet sich<br />

in ihrer eigenen, besonderen Lage, hat ihre besondere Ansicht über die sie umgebende Ordnung<br />

der Dinge, sie hat ihren eigenen Schmerz, ihre eigenen Freuden, ihre eigenen Hoffnungen<br />

und Bestrebungen – mit einem Wort, wie man so sagt, ihre besondere Geisteswelt. Und<br />

diese Geisteswelt findet nun ihren Ausdruck in der Dichtkunst. Deshalb verlieren Werke der<br />

Dichtkunst, die bei dieser Klasse oder Gesellschaftsschicht großen Anklang finden, für eine<br />

andere Klasse häufig fast jeden Sinn. Hier ein Beispiel dafür.<br />

Bei uns in Rußland waren vor nicht langer Zeit fast alle Reichtümer, alle Ehren, alle obersten<br />

Ämter in den Händen des Adels konzentriert, der die herrschende Klasse war. Trotzdem erlangte<br />

der Adel bei uns niemals eine solche ungeheure Macht wie in manchen anderen europäischen<br />

Staaten. Vor mehreren hundert Jahren – im Verlaufe des ganzen sogenannten Mittelalters<br />

– wurde die Macht der Fürsten von der Hochadelsaristokratie (Baronen, Herzogen,<br />

Grafen) durchaus nicht anerkannt. Sie waren in ihren gewaltigen Besitztümern, zu denen<br />

ganze Gebiete und Städte gehörten, wirklich kleine Könige. Sie glaubten, wie das jetzt auch<br />

unser Zar glaubt, ihre Herrschaft sei „von Gottes Gnaden“, hielten selbst Gericht und bestraften<br />

ihre Untertanen, führten eigenmächtig Krieg oder schlossen Frieden mit ihren Nachbarn.<br />

Man kann sagen. daß der Krieg ihr Handwerk, ihre einzige Beschäftigung war. Alle übrigen<br />

Arten der Betätigung hielten sie für niedrig und ihres Standes unwürdig. Und dieser reiche,<br />

müßige, kriegerische und unabhängige – wie man so sagt, feudale – Adel schuf seine eigene<br />

Art der Dichtkunst, die nur für ihn, [533] nicht aber für andere Klassen der Gesellschaft einen<br />

Reiz haben konnte. Einer dieser feudalen Herren, der einst durch seinen Übermut und seine<br />

Lieder berühmt war, sagt in einem dieser Lieder, daß „ein Mensch nur danach geschätzt wird,<br />

wieviel Schläge er hinnehmen mußte und wieviel er selbst ausgeteilt hat“ (natürlich mit dem<br />

Schwert, und nicht mit der Faust). „Es gefällt mir“, sagt er weiter in dem gleichen Lied,<br />

„wenn Menschen und Herden vor den dahersprengenden Kriegsleuten davonrennen... Essen,<br />

Trinken, Schlafen – nichts übt auf mich einen solchen Reiz aus wie der Anblick der Getöteten,<br />

in denen die Waffe steckt, die sie durchbohrt hat.“ 1* Sie verstehen, liebe Leser, daß von<br />

* Anmerkungen zu: Einige Worte an die Arbeiterleser (S. 532-537) am Ende des Kapitels.<br />

1* Plechanow zitiert das berühmte provenzalische Sirvente „Bem platz do gais temps de pascor“, das einem der<br />

größten Dichter des Feudalismus, Bertran de Born (um 1140-1215), zugeschrieben wird. Das erste Zitat sind die<br />

zwei Schlußzeilen der dritten Strophe:<br />

... nuls om non es re prezatz<br />

Tro qu’a maintz colps pres et donatz.<br />

Das zweite Zitat verbindet den Anfang der zweiten Strophe mit Bruchstücken aus der fünften Strophe in ziemlich<br />

freier Übersetzung:<br />

2. Strophe E platz mi quan li coredior<br />

Fan las gens et l’aver fugir,<br />

E platz mi quan vei apres lor<br />

Grauré d’armatz ensems venir...<br />

5. Strophe Eus dic que tan no m’a, sabor<br />

Manjar ni beure ni dormir...<br />

E vei los martz due pls costatz<br />

An los tranzos ab los sendatz.<br />

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