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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013 „Der Mir hat Erbarmen mit jedem“ (S. 140). Wie läßt sich anders als durch subjektive Verschiedenheiten ein solcher Unterschied in den Eindrücken erklären, die zwei Beobachter in ein und demselben Gebiet, dem Wolgagebiet, gewonnen haben? Noch ein paar Worte für Herrn Iwanow. Er grämt sich darüber, daß nur die erwachsenen Bauern ein Anrecht auf einen Bodenanteil haben und daß alte Frauen und Jugendliche wie Fedjuschka, der Pferdedieb, [531] keines haben. Aber nicht die Bauern sind schuld daran, daß die Bodenzuteilung mit Steuern verbunden ist, die zu bezahlen die alten Frauen und Jugendlichen sicherlich „nicht die Kraft hätten“, obwohl nach dem Tode des Vaters bei den letzteren manchmal der Bodenanteil verbleibt, vorausgesetzt, daß ihre wirtschaftliche Rechtsfähigkeit irgendwie angedeutet ist. Vielleicht möchte Herr Iwanow, daß der Mir diese Steuern auf sich nehmen soll? Aber so streng auch das Arbeitsprinzip in den bodenrechtlichen Verhältnissen der Bauern durchgeführt ist, ein Recht auf Versicherung der arbeitsunfähigen Personen läßt sich aus diesem Prinzip nicht ableiten. Hier nun tritt ein anderes, in weit größerem Maße moralisches, aber auch viel schwerer erreichbares Prinzip auf den Plan: „Jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Es behauptet auch niemand, daß sich unsere Bauern in ihren gegenseitigen Beziehungen von diesem letzteren Prinzip leiten lassen, obwohl der Großrusse, wo er in günstigere wirtschaftliche Bedingungen versetzt ist, auch dieses nicht ablehnt. In Herrn Flerowskis Artikel „Die Arbeitsorganisation im Ural“, der in der Zeitschrift „Snanije“‚ wenn ich mich nicht irre, vom Jahrgang 1871, veröffentlicht wurde, wird erzählt, daß es bei den Uralkosaken Sitte ist, den Fischfang im Uralfluß gemeinschaftlich durchzuführen („geeinigte gemeinschaftliche Wirtschaft“) und dann den Fang nach der Zahl der daran Beteiligten zu teilen; dabei aber läßt man immer einen gewissen Teil denen zukommen, die infolge von Umständen, die nicht von ihnen abhängen, am Fang nicht mit eigener Arbeit teilnehmen konnten, nämlich den Alten, Kranken usw. Hier ist das Prinzip „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ bereits im Keime sichtbar. Anmerkungen Der Aufsatz wurde erstmals gedruckt in der Zeitschrift „Nedelja“ (1878, Nr. 52) unter dem Pseudonym G. Walentinow; wir drucken hier den Text der Gesamtausgabe der Werke, Bd. X, S. 399-407. Der Aufsatz wurde noch in der Zeit der volkstümlerischen Stimmungen und Ansichten Plechanows geschrieben. Den Anlaß zur Abfassung des Artikels gab die Polemik unter den Volkstümlern bezüglich Gl. Uspenskis Skizzen „Aus dem Dorftagebuch“ (die in den „Otjetschestwennyje Sapiski“ 1877-1879 gedruckt wurden), worin der Schriftsteller das Eindringen des Kapitalismus in das Dorf und die Zersetzung der festen Ordnung der Dorfgemeinschaft unter dem Einfluß des Anwachsens kapitalistischer Verhältnisse unter der Bauernschaft dargestellt hat. Die Verschiedenheit in den Auffassungen zwischen den zwei Richtungen unter den Volkstümlern der achtziger Jahre: zwischen der „optimistischen“ Richtung, welche die Dorfgemeinschaft idealisierte, und der kritischen Richtung, welche die Illusionen bezüglich der „Solidarität“ der Dorfgemeinschaft nicht teilte, hat Plechanow richtig bezeichnet. Als Vertreter der ersten Richtung nennt Plechanow mit offenbarer Sympathie N. N. Slatowratski, Jefimenko und andere, welche die Möglichkeit der Entwicklung des Kapitalismus in Rußland bestritten, während Gl. Uspenski an Hand klarer und unwiderlegbarer Tatsachen bewies, daß sich der Kapitalismus im Dorfe organisch entwickelte. Gl. Uspenski deckte das Falsche und Utopische in den Anschauungen der Volkstümler auf, als sei die Bauernschaft Träger sozialistischer Ideen. Hier steht Plechanow nicht auf seiten Uspenskis. Später, nachdem er Marxist geworden, hat Plechanow das Schaffen Uspenskis ganz anders gewürdigt. 7

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013 [532] Einige Worte an die Arbeiterleser* Es ist eine altbekannte Tatsache, daß jedes Volk seine eigene Dichtkunst hat und daß seine dichterischen Erzeugnisse einen um so tieferen Inhalt aufweisen, je entwickelter und gebildeter ein Volk ist. Mit dem gleichen Recht kann man sagen, daß jede Gesellschaftsklasse ebenfalls ihre eigene Dichtkunst hat, in die sie einen besonderen Inhalt hineinlegt. Und darüber braucht man sich auch gar nicht zu verwundern, denn jede Gesellschaftsklasse befindet sich in ihrer eigenen, besonderen Lage, hat ihre besondere Ansicht über die sie umgebende Ordnung der Dinge, sie hat ihren eigenen Schmerz, ihre eigenen Freuden, ihre eigenen Hoffnungen und Bestrebungen – mit einem Wort, wie man so sagt, ihre besondere Geisteswelt. Und diese Geisteswelt findet nun ihren Ausdruck in der Dichtkunst. Deshalb verlieren Werke der Dichtkunst, die bei dieser Klasse oder Gesellschaftsschicht großen Anklang finden, für eine andere Klasse häufig fast jeden Sinn. Hier ein Beispiel dafür. Bei uns in Rußland waren vor nicht langer Zeit fast alle Reichtümer, alle Ehren, alle obersten Ämter in den Händen des Adels konzentriert, der die herrschende Klasse war. Trotzdem erlangte der Adel bei uns niemals eine solche ungeheure Macht wie in manchen anderen europäischen Staaten. Vor mehreren hundert Jahren – im Verlaufe des ganzen sogenannten Mittelalters – wurde die Macht der Fürsten von der Hochadelsaristokratie (Baronen, Herzogen, Grafen) durchaus nicht anerkannt. Sie waren in ihren gewaltigen Besitztümern, zu denen ganze Gebiete und Städte gehörten, wirklich kleine Könige. Sie glaubten, wie das jetzt auch unser Zar glaubt, ihre Herrschaft sei „von Gottes Gnaden“, hielten selbst Gericht und bestraften ihre Untertanen, führten eigenmächtig Krieg oder schlossen Frieden mit ihren Nachbarn. Man kann sagen. daß der Krieg ihr Handwerk, ihre einzige Beschäftigung war. Alle übrigen Arten der Betätigung hielten sie für niedrig und ihres Standes unwürdig. Und dieser reiche, müßige, kriegerische und unabhängige – wie man so sagt, feudale – Adel schuf seine eigene Art der Dichtkunst, die nur für ihn, [533] nicht aber für andere Klassen der Gesellschaft einen Reiz haben konnte. Einer dieser feudalen Herren, der einst durch seinen Übermut und seine Lieder berühmt war, sagt in einem dieser Lieder, daß „ein Mensch nur danach geschätzt wird, wieviel Schläge er hinnehmen mußte und wieviel er selbst ausgeteilt hat“ (natürlich mit dem Schwert, und nicht mit der Faust). „Es gefällt mir“, sagt er weiter in dem gleichen Lied, „wenn Menschen und Herden vor den dahersprengenden Kriegsleuten davonrennen... Essen, Trinken, Schlafen – nichts übt auf mich einen solchen Reiz aus wie der Anblick der Getöteten, in denen die Waffe steckt, die sie durchbohrt hat.“ 1* Sie verstehen, liebe Leser, daß von * Anmerkungen zu: Einige Worte an die Arbeiterleser (S. 532-537) am Ende des Kapitels. 1* Plechanow zitiert das berühmte provenzalische Sirvente „Bem platz do gais temps de pascor“, das einem der größten Dichter des Feudalismus, Bertran de Born (um 1140-1215), zugeschrieben wird. Das erste Zitat sind die zwei Schlußzeilen der dritten Strophe: ... nuls om non es re prezatz Tro qu’a maintz colps pres et donatz. Das zweite Zitat verbindet den Anfang der zweiten Strophe mit Bruchstücken aus der fünften Strophe in ziemlich freier Übersetzung: 2. Strophe E platz mi quan li coredior Fan las gens et l’aver fugir, E platz mi quan vei apres lor Grauré d’armatz ensems venir... 5. Strophe Eus dic que tan no m’a, sabor Manjar ni beure ni dormir... E vei los martz due pls costatz An los tranzos ab los sendatz. 1

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

„Der Mir hat Erbarmen mit jedem“ (S. 140).<br />

Wie läßt sich anders als durch subjektive Verschiedenheiten ein solcher Unterschied in den<br />

Eindrücken erklären, die zwei Beobachter in ein und demselben Gebiet, dem Wolgagebiet,<br />

gewonnen haben?<br />

Noch ein paar Worte für Herrn Iwanow. Er grämt sich darüber, daß nur die erwachsenen<br />

Bauern ein Anrecht auf einen Bodenanteil haben und daß alte Frauen und Jugendliche wie<br />

Fedjuschka, der Pferdedieb, [531] keines haben. Aber nicht die Bauern sind schuld daran, daß<br />

die Bodenzuteilung mit Steuern verbunden ist, die zu bezahlen die alten Frauen und Jugendlichen<br />

sicherlich „nicht die Kraft hätten“, obwohl nach dem Tode des Vaters bei den letzteren<br />

manchmal der Bodenanteil verbleibt, vorausgesetzt, daß ihre wirtschaftliche Rechtsfähigkeit<br />

irgendwie angedeutet ist. Vielleicht möchte Herr Iwanow, daß der Mir diese Steuern auf sich<br />

nehmen soll? Aber so streng auch das Arbeitsprinzip in den bodenrechtlichen Verhältnissen<br />

der Bauern durchgeführt ist, ein Recht auf Versicherung der arbeitsunfähigen Personen läßt<br />

sich aus diesem Prinzip nicht ableiten. Hier nun tritt ein anderes, in weit größerem Maße moralisches,<br />

aber auch viel schwerer erreichbares Prinzip auf den Plan: „Jedem nach seinen Bedürfnissen.“<br />

Es behauptet auch niemand, daß sich unsere Bauern in ihren gegenseitigen Beziehungen<br />

von diesem letzteren Prinzip leiten lassen, obwohl der Großrusse, wo er in günstigere<br />

wirtschaftliche Bedingungen versetzt ist, auch dieses nicht ablehnt. In Herrn Flerowskis<br />

Artikel „Die Arbeitsorganisation im Ural“, der in der Zeitschrift „Snanije“‚ wenn ich mich<br />

nicht irre, vom Jahrgang 1871, veröffentlicht wurde, wird erzählt, daß es bei den Uralkosaken<br />

Sitte ist, den Fischfang im Uralfluß gemeinschaftlich durchzuführen („geeinigte gemeinschaftliche<br />

Wirtschaft“) und dann den Fang nach der Zahl der daran Beteiligten zu teilen;<br />

dabei aber läßt man immer einen gewissen Teil denen zukommen, die infolge von Umständen,<br />

die nicht von ihnen abhängen, am Fang nicht mit eigener Arbeit teilnehmen konnten,<br />

nämlich den Alten, Kranken usw. Hier ist das Prinzip „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ bereits<br />

im Keime sichtbar.<br />

Anmerkungen<br />

Der Aufsatz wurde erstmals gedruckt in der Zeitschrift „Nedelja“ (1878, Nr. 52) unter dem<br />

Pseudonym G. Walentinow; wir drucken hier den Text der Gesamtausgabe der Werke, Bd. X,<br />

S. 399-407.<br />

Der Aufsatz wurde noch in der Zeit der volkstümlerischen Stimmungen und Ansichten<br />

Plechanows geschrieben. Den Anlaß zur Abfassung des Artikels gab die Polemik unter den<br />

Volkstümlern bezüglich Gl. Uspenskis Skizzen „Aus dem Dorftagebuch“ (die in den „Otjetschestwennyje<br />

Sapiski“ 1877-1879 gedruckt wurden), worin der Schriftsteller das Eindringen<br />

des Kapitalismus in das Dorf und die Zersetzung der festen Ordnung der Dorfgemeinschaft<br />

unter dem Einfluß des Anwachsens kapitalistischer Verhältnisse unter der Bauernschaft dargestellt<br />

hat. Die Verschiedenheit in den Auffassungen zwischen den zwei Richtungen unter<br />

den Volkstümlern der achtziger Jahre: zwischen der „optimistischen“ Richtung, welche die<br />

Dorfgemeinschaft idealisierte, und der kritischen Richtung, welche die Illusionen bezüglich<br />

der „Solidarität“ der Dorfgemeinschaft nicht teilte, hat Plechanow richtig bezeichnet.<br />

Als Vertreter der ersten Richtung nennt Plechanow mit offenbarer Sympathie N. N. Slatowratski,<br />

Jefimenko und andere, welche die Möglichkeit der Entwicklung des Kapitalismus<br />

in Rußland bestritten, während Gl. Uspenski an Hand klarer und unwiderlegbarer Tatsachen<br />

bewies, daß sich der Kapitalismus im Dorfe organisch entwickelte. Gl. Uspenski deckte das<br />

Falsche und Utopische in den Anschauungen der Volkstümler auf, als sei die Bauernschaft<br />

Träger sozialistischer Ideen. Hier steht Plechanow nicht auf seiten Uspenskis. Später, nachdem<br />

er Marxist geworden, hat Plechanow das Schaffen Uspenskis ganz anders gewürdigt.<br />

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