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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013 An Stelle der Ketten leibeigener Fron Hat man erdacht der Ketten manch andere schon. 1 [525] Und darf man sich nicht bei der Befreiung des Bauern von diesen anderen Ketten, von den Ketten ökonomischer und anderer Art, mit der gleichen Frage befassen? Die simpelste Schlußfolgerung beweist, daß dieser alte Streit auch in unserer Zeit kein Jota von seiner Bedeutung verloren hat. Und er wird sowohl in der Literatur als auch in Privatkreisen geführt – er hat nur andere Formen angenommen entsprechend den veränderten Verhältnissen, in die der Mushik versetzt ist. Die einen sagen, im Charakter unseres Volkes gebe es viele schöne Züge, die zu großen Hoffnungen berechtigen; es habe ohne jegliche Anweisungen der Wissenschaft ein solches Verhältnis, sagen wir mal: zum Boden, dem wichtigsten Instrument der Produktion in Rußland, ausgearbeitet, wie es erst jetzt „unseren Philosophen aufzudämmern“ beginnt, habe an der von ihm liebgewonnenen Form des Landbesitzes fast ein ganzes Jahrtausend lang festgehalten und, in vielem schwach und nachgiebig, in der Frage nach dem Typus seiner ökonomischen Organisation eine erstaunliche Standhaftigkeit und Hartnäckigkeit an den Tag gelegt. Wenn es nicht mehr auszuhalten war, „suchte es das Weite“‚ verschwand es „über die Grenze“‚ besiedelte es die öden Randgebiete, aber auch dort Hielt ihn nur ein Gedanke fest. 2 Dieser Gedanke war – sein Recht auf das Land, „wo das Beil hingeht, die Sense und der Hakenpflug“, das Recht der freien, autonomen Gemeinschaftsordnung. So war es in der geschichtlichen Zeit. Erscheinungen unserer Zeit wie die „Stunde“ 3 , die in voller Größe vor unseren Augen entstand; wie die Pläne einer „schwarzen Umteilung“, auf die bei Herrn Jefimenko hingewiesen wird; wie die von Zeit zu Zeit auftauchenden Gerüchte, daß die Bauern zu Kosaken wurden; wie das Pachten von Land durch ganze Bauerngemeinschaften auf der Grundlage gegenseitiger Bürgschaft, die bei solcher Anwendung die gerechteste Form der gegenseitigen Versicherung ist – alle diese Erscheinungen beweisen, daß im russischen Volk, obgleich es von der Geschichte so stiefmütterlich behandelt wurde, die Grundsätze der Gemeinschaftlichkeit nicht ausgemerzt wurden, daß unser Bauer bis zum heutigen Tage „als einzelner im Felde kein Krieger ist“, daß ihn auch heutzutage noch „die Angst verzehrt“, wenn er allein für sich handeln soll. Diese Charaktereigenschaften bieten dem Volke die Gewähr einer lichtvollen Zukunft, ihr dürft nur diesen Charakter nicht verunstalten, ihr müßt nur die Hindernisse beiseite [526] räumen, die auf dem Wege des Volkes zu dieser Zukunft stehen. So spricht die eine Seite, und dazu gehört, wie wir schon gesagt haben, ein gewisser Teil der Mitarbeiter des „Slowo“ und der „Otjetschestwennyje Sapiski“, soweit man dies aus ihren gedruckten Äußerungen entnehmen kann. Nein! hält ihnen der andere Teil der Mitarbeiter derselben Organe und auch viele Stimmen aus dem Publikum entgegen, man darf unser Volk, wie ein minderjähriges Kind, nicht ohne Führung lassen, in seinem Charakter sind viele Anlagen, die die heute bestehenden wirtschaftlichen Übelstände bedingen; es genügt nicht, wenn man es von den letzteren befreit, man muß es vorher aufklären, um dadurch eine Sicherheit zu schaffen, daß sie nicht wiederkehren; man muß ein richtiges pädagogisches System aufziehen, um den Volkscharakter umzubilden, weil, wie Herr Iwanow sagt, „beim Russen ebenso viele westeuropäische Schwären 1 [Diese Zeilen stammen aus Nekrassows Gedicht „Freiheit“ (1861); dort heißt es allerdings statt Ketten – Netze (ceтeй).] 2 [Diese Zeile stammt aus dem Poem „Mzyri“ von Lermontow.] 3 [Evangelisch-baptistische Sekte in Rußland um die Mitte des 19. Jahrhunderts.] 3

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013 (oder fast ebenso viele) vorhanden sind wie bei seinem Vorbild“ (bisher hatten wir geglaubt, daß der Westeuropäer als Vorbild nur für die höheren Gesellschaftsklassen, und zwar auch nicht in jeder Beziehung gedient habe; nach Herrn Iwanow aber ist auch unser Mushik vom „‚Europäertum‘ angesteckt, und obendrein haben sich auch die nichteuropäischen Züge des russischen Menschen als mit Schwären behaftet erwiesen“) („Otjetschestwennyje Sapiski, 1878, November, S. 245). Der Leser sieht jetzt, worum der Streit geht; er versteht auch, daß bei keiner der streitenden Parteien von „Kapitalanhäufung“ oder von „Besteuerungen“ die Rede ist, so daß wir, wenn Herr Iwanow auch diese unerwartete Schlußfolgerung aus den Einwänden seiner Gegner gezogen hat, die einzige Erklärung hierfür darin erblicken, daß der ehrenwerte Belletrist sich geärgert hat, aus dem Häuschen geraten ist, wie die Helden Ostrowskis sagen, und... eine „falsche“ Schlußfolgerung gezogen hat. Überhaupt finden sich bei Herrn Iwanow nicht wenige „falsche“, jeder Logik entbehrende Schlußfolgerungen. So sagt er zum Beispiel auf Seite 246 folgendes: „... es kam so ein süßliches, um nicht zu sagen: geiferndes Verhältnis zum Volk auf. Während die Intelligenz ihre Sorgen, ihre Leiden und Gebrechen recht ausführlich und sachgemäß behandelte, hielt man jede sachliche Beziehung zum Volk für unangebracht...“ Erlauben Sie, Herr Iwanow! Wer und wann hat jemand gegen die sachliche Beziehung zum Volk gesprochen? Es wurden gewisse Meinungen geäußert, es wurden übereilte Schlußfolgerungen über das Thema „Du bist ein Mushik, also bist du unrein“ zurückgewiesen; wenn man aber jeden, der eine gute Meinung vom Charakter und den Bestrebungen des Volkes hat, für einen Menschen hält, der zu ihm keine „sachliche Beziehung“ hat, ist man da nicht wie der Mehlhändler, der, nachdem er für seinen Sohn einen Lehrer angestellt hat, durchaus nicht begreifen kann, daß es [527] bei seinem „Buben“ auch ohne Schläge geht, und eine sanfte Behandlung des Kindes so auslegt, daß es hier an der „sachlichen Beziehung“ zur Pädagogik fehlt? Wirklich, die Logik ist hier die gleiche: Ihr schimpft auf den Mushik – sehr schön: bei euch wird nichts „idealisiert“; ihr liebt euer Volk und studiert seine „Gebrechen“ gründlich. Aber sowie ihr beweisen wollt, daß das Volk ohne ein hochentwickeltes soziales Empfinden unmöglich solche gerechten Verhältnisse bezüglich des Landbesitzes, dieses Gewohnheitsrecht hätte schaffen können, dem das Arbeitsprinzip zugrunde liegt und nach dem unsere Bauern bei allen Streitigkeiten und Differenzen verfahren, und solche Erscheinungen des russischen Lebens wie die Kirchenspaltung undenkbar gewesen wären; sowie ihr euch untersteht, mit dieser Entgegnung zu kommen, schließt man euch aus der Zahl der „kritisch denkenden“ Menschen aus, beschuldigt man euch, daß ihr den „alten Zopf“ anbetet. Eine solche Polemik mag sein, was man will, sie ist keine „sachliche Behandlung“ der Einwände der Gegenpartei. A propos alter Zopf. Uns fällt ein, daß Herr Gl. Uspenski hierüber etwas anders gedacht hat. Sie werden sich an seine „Memoiren eines Faulenzers“ erinnern; da erzählt der Küster eines Dorfes einem Veteranen, wie bei ihnen im Dorfe sich ein Schismatiker niedergelassen habe. In ganz kurzer Zeit hatte dieser Sektierer die Bauern zum Denken angeregt und sie dazu gebracht, daß sie sich mit der Lösung der verwickeltsten gesellschaftlichen Verhältnisse abquälten. Sie bestürmten den Küster mit Bitten, einen „Redestreit zu machen“; in dem Streitgespräch wurde immer über die Seele, über das Land, über die Lösegelder gesprochen. So verworren die Beweisgründe auch waren, auf denen die Bauern ihre Schlußfolgerungen aufbauten, so ist doch die Tatsache, daß es einem ungebildeten alten Sektierer gelungen war, das Volk zum Denken zu bringen, etwas, was die Intelligenz nicht immer fertig bringt. Was meinen Sie, lieber Leser, sollte wohl der „alte Zopf“ zu solchen verdienstvollen Dingen fähig sein? Uns scheint, daß man dazu ganz märchenhafte Siebenmeilenstiefel braucht. Oder glaubt Herr Iwanow nicht, wie der Dorfküster, daß die Sektierer „ganz schreckliche Ketzer“ sind? Ist es so, dann kann man mit ihm auch anders reden (es wird sich wohl kaum einer einfallen 4

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(oder fast ebenso viele) vorhanden sind wie bei seinem Vorbild“ (bisher hatten wir geglaubt,<br />

daß der Westeuropäer als Vorbild nur für die höheren Gesellschaftsklassen, und zwar auch<br />

nicht in jeder Beziehung gedient habe; nach Herrn Iwanow aber ist auch unser Mushik vom<br />

„‚Europäertum‘ angesteckt, und obendrein haben sich auch die nichteuropäischen Züge des<br />

russischen Menschen als mit Schwären behaftet erwiesen“) („Otjetschestwennyje Sapiski,<br />

1878, November, S. 245).<br />

Der Leser sieht jetzt, worum der Streit geht; er versteht auch, daß bei keiner der streitenden<br />

Parteien von „Kapitalanhäufung“ oder von „Besteuerungen“ die Rede ist, so daß wir, wenn<br />

Herr Iwanow auch diese unerwartete Schlußfolgerung aus den Einwänden seiner Gegner gezogen<br />

hat, die einzige Erklärung hierfür darin erblicken, daß der ehrenwerte Belletrist sich<br />

geärgert hat, aus dem Häuschen geraten ist, wie die Helden Ostrowskis sagen, und... eine<br />

„falsche“ Schlußfolgerung gezogen hat.<br />

Überhaupt finden sich bei Herrn Iwanow nicht wenige „falsche“, jeder Logik entbehrende<br />

Schlußfolgerungen. So sagt er zum Beispiel auf Seite 246 folgendes: „... es kam so ein süßliches,<br />

um nicht zu sagen: geiferndes Verhältnis zum Volk auf. Während die Intelligenz ihre<br />

Sorgen, ihre Leiden und Gebrechen recht ausführlich und sachgemäß behandelte, hielt man<br />

jede sachliche Beziehung zum Volk für unangebracht...“ Erlauben Sie, Herr Iwanow! Wer<br />

und wann hat jemand gegen die sachliche Beziehung zum Volk gesprochen? Es wurden gewisse<br />

Meinungen geäußert, es wurden übereilte Schlußfolgerungen über das Thema „Du bist<br />

ein Mushik, also bist du unrein“ zurückgewiesen; wenn man aber jeden, der eine gute Meinung<br />

vom Charakter und den Bestrebungen des Volkes hat, für einen Menschen hält, der zu<br />

ihm keine „sachliche Beziehung“ hat, ist man da nicht wie der Mehlhändler, der, nachdem er<br />

für seinen Sohn einen Lehrer angestellt hat, durchaus nicht begreifen kann, daß es [527] bei<br />

seinem „Buben“ auch ohne Schläge geht, und eine sanfte Behandlung des Kindes so auslegt,<br />

daß es hier an der „sachlichen Beziehung“ zur Pädagogik fehlt? Wirklich, die Logik ist hier<br />

die gleiche: Ihr schimpft auf den Mushik – sehr schön: bei euch wird nichts „idealisiert“; ihr<br />

liebt euer Volk und studiert seine „Gebrechen“ gründlich. Aber sowie ihr beweisen wollt, daß<br />

das Volk ohne ein hochentwickeltes soziales Empfinden unmöglich solche gerechten Verhältnisse<br />

bezüglich des Landbesitzes, dieses Gewohnheitsrecht hätte schaffen können, dem<br />

das Arbeitsprinzip zugrunde liegt und nach dem unsere Bauern bei allen Streitigkeiten und<br />

Differenzen verfahren, und solche Erscheinungen des russischen Lebens wie die Kirchenspaltung<br />

undenkbar gewesen wären; sowie ihr euch untersteht, mit dieser Entgegnung zu kommen,<br />

schließt man euch aus der Zahl der „kritisch denkenden“ Menschen aus, beschuldigt<br />

man euch, daß ihr den „alten Zopf“ anbetet. Eine solche Polemik mag sein, was man will, sie<br />

ist keine „sachliche Behandlung“ der Einwände der Gegenpartei.<br />

A propos alter Zopf. Uns fällt ein, daß Herr Gl. Uspenski hierüber etwas anders gedacht hat.<br />

Sie werden sich an seine „Memoiren eines Faulenzers“ erinnern; da erzählt der Küster eines<br />

Dorfes einem Veteranen, wie bei ihnen im Dorfe sich ein Schismatiker niedergelassen habe.<br />

In ganz kurzer Zeit hatte dieser Sektierer die Bauern zum Denken angeregt und sie dazu gebracht,<br />

daß sie sich mit der Lösung der verwickeltsten gesellschaftlichen Verhältnisse abquälten.<br />

Sie bestürmten den Küster mit Bitten, einen „Redestreit zu machen“; in dem Streitgespräch<br />

wurde immer über die Seele, über das Land, über die Lösegelder gesprochen. So verworren<br />

die Beweisgründe auch waren, auf denen die Bauern ihre Schlußfolgerungen aufbauten,<br />

so ist doch die Tatsache, daß es einem ungebildeten alten Sektierer gelungen war, das<br />

Volk zum Denken zu bringen, etwas, was die Intelligenz nicht immer fertig bringt. Was meinen<br />

Sie, lieber Leser, sollte wohl der „alte Zopf“ zu solchen verdienstvollen Dingen fähig<br />

sein? Uns scheint, daß man dazu ganz märchenhafte Siebenmeilenstiefel braucht. Oder glaubt<br />

Herr Iwanow nicht, wie der Dorfküster, daß die Sektierer „ganz schreckliche Ketzer“ sind?<br />

Ist es so, dann kann man mit ihm auch anders reden (es wird sich wohl kaum einer einfallen<br />

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