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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

gen nicht von abstrakten Prinzipien, sondern von der „Natur“, von ihrem ganzen Wesen leiten<br />

läßt. Das ist ein ganzer Charakter. In der Ganzheit beruht seine Kraft und seine Notwendigkeit.<br />

Die alten, wilden Verhältnisse können sich nur noch durch die äußere mechanische<br />

Bindung halten. Um sie zu zerstören, braucht man nicht so sehr Logik – mit Logik kann man<br />

der Despotie nicht beikommen – als vielmehr jene unmittelbare Kraft der „Natur“, wie sie in<br />

jeder Handlung Katerinas zutage tritt. In ihrem Gespräch mit Warwara (in dem [515] zweiten<br />

1 Auftritt des zweiten Aktes) sagt Katerina: „Ich will hier nicht leben, und darum bleibe<br />

ich nicht, und wenn du mich umbringst.“ Diese entschlossene Erklärung versetzt unsern Kritiker<br />

in Entzücken. Er ruft aus:<br />

„Das ist wahre Charakterstärke, auf die man sich jedenfalls verlassen kann. Das ist eine Höhe,<br />

die unser Volksleben in seiner Entwicklung erreicht, die jedoch in unserer Literatur nur<br />

sehr wenige ersteigen konnten, und niemand vermochte sich auf dieser Höhe so gut zu behaupten<br />

wie Ostrowski.“ 2<br />

Den Menschen lenken nicht abstrakte Ansichten und Glaubenssätze, sondern die Tatsachen des<br />

Lebens. 3 Deshalb gehört zum Kampf im allgemeinen und auch zum Kampf gegen die Despotie<br />

im besonderen vor allem eine unmittelbare Ganzheit der Natur, eine unbeugsame Charakterstärke.<br />

Durch diese Eigenschaft zeichneten sich die Helden anderer Werke der russischen schönen<br />

Literatur bekanntlich selten aus. Dobroljubow fand, daß sie alle in einem nahen Verwandtschaftsverhältnis<br />

zu Oblomow stehen. Dem Oblomowtum stand, seiner Meinung nach, selbst<br />

Petschorin nicht fern, der eine beachtenswerte Energie besaß. Das ist die zersetzende Wirkung<br />

der privilegierten Stellung. Wir alle, die wir uns für gebildet halten und die wir uns unsere Bildung<br />

auf Kosten des Volkes angeeignet haben, sind mehr oder weniger dem moralischen Verderben<br />

und dem allmählichen Mord der seelischen Kräfte ausgesetzt. Daher haben wir alle etwas<br />

von der Art des Oblomow an uns. Den Menschen aus dem Volk ist dieser ungeheure Mangel<br />

fremd. Das Oblomowtum konnte auf sie nicht ansteckend wirken, weil das Leben im Sinne des<br />

Oblomow die Ausbeutung fremder Arbeitskraft voraussetzt, das Volk sich aber durch eigene<br />

Arbeit ernährt und noch dazu auf seinem breiten Rücken die Oblomowschen Herrschaften zu<br />

tragen hat. Daher sind die Menschen aus dem Volk in ihrem Wesen unversehrter als wir Menschen<br />

der privilegierten Stände; deshalb handeln sie da, wo wir nur überlegen. Und das ist ihr<br />

großer Vorzug. In dem Artikel „Einzelzüge zur Charakteristik des einfachen russischen Volkes“,<br />

der anläßlich der Erzählungen von Marko Wowtschok geschrieben wurde, stellt Dobroljubow<br />

die Bauern den Gebildeten gegenüber und sagt: „Wir philosophieren gewöhnlich zum Zeitvertreib,<br />

zuweilen zur [516] Erleichterung der Verdauung, und größtenteils über Gegenstände, die<br />

uns nichts angehen, die wir keinesfalls ändern können noch wollen. Der Bauer will von solchem<br />

geistigen Luxus nichts wissen, er ist ein Arbeitsmensch, er denkt darüber nach, was auf sein<br />

Leben Bezug haben kann, und zwar denkt er gerade zu dem Zwecke darüber nach, um in seiner<br />

Seele eine Grundlage für die praktische Betätigung zu finden.“ 4 In demselben Geiste hatte schon<br />

vor Dobroljubow Tschernyschewski geschrieben. Zur Charakterisierung seiner Ansicht über<br />

seine gebildeten Zeitgenossen braucht man nur auf seinen Artikel „Der russische Mensch beim<br />

Rendezvous“ zu verweisen. In der recht wenig schmeichelhaften Ansicht über den damaligen<br />

gebildeten Menschen zeigte sich nicht nur die Ungeduld des fortschrittlichen Predigers, der ungehalten<br />

war über den geringen Widerhall seiner Worte bei seinen Zuhörern, und nicht nur die<br />

1 [bei Plechanow irrtümlich: ersten.]<br />

2 [Zit. Werk, S. 690.]<br />

3 Dieser Leitsatz widerspricht ebenfalls dem historischen Idealismus, aber wir begegnen ihm ebenfalls schon bei<br />

den französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts; man muß sich erinnern, daß sie, wie Dobroljubow, Materialisten<br />

waren, die, da ihr Materialismus noch nicht durchgearbeitet war, der idealistischen Geschichtsauffassung<br />

huldigten.<br />

4 Werke Dobroljubows, Bd. III, S. 361. [Zit. Werk, S. 558.]<br />

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