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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

Und so haben die Menschen, im Gegensatz zu ihrem natürlichen Grundbestreben, „daß es allen<br />

gut gehe“, ihre gegenseitigen Beziehungen in der Gesellschaft bis auf den heutigen Tag<br />

schlecht eingerichtet. Und zwar weil sie aus Mangel an Erfahrung, aus Mangel an Kenntnissen<br />

nicht verstanden haben, sie so zu ordnen, wie es sein sollte. Das ist eine rein idealistische Ansicht<br />

von der Geschichte. Sie wird ausgesprochen von einem treuen Anhänger Feuerbachs und<br />

Tschernyschewskis, d. h. von einem überzeugten Materialisten. Aber dieser Widerspruch darf<br />

uns durchaus nicht verwundern. Feuerbach und Tschernyschewski waren in der Geschichte<br />

ebenfalls Idealisten, und schon viel früher waren die französischen Materialisten Diderot, Holbach,<br />

Helvétius genau solche Idealisten. Feuerbach, Tschernyschewski und die französischen<br />

Materialisten des 18. Jahrhunderts glaubten alle, die tiefste, letzte Ursache der geschichtlichen<br />

Entwicklung seien die Ansichten der Menschen. Wenn eine bestimmte Gesellschaftsordnung<br />

sie nicht befriedigte, nahmen sie daher an, ihre Entstehung sei letzten Endes durch einen Mangel<br />

an Wissen zu erklären. Und sie alle appellierten, wie Dobroljubow, gern an die Natur und<br />

nannten die in ihren Augen unbefriedigende Gesellschaftsordnung künstlich. Die Grundthese<br />

des historischen Idealismus dieser Art besagt, daß „die Meinung die Welt regiert“ 1 . Die Menschen,<br />

die an der fortschrittlichen Bewegung unserer Zeit teilnehmen, erkennen die unbedingte<br />

Richtigkeit dieser These durchaus nicht an. Sie begreifen natürlich, daß die „Meinung“ in der<br />

geschichtlichen Entwicklung stets eine gewaltige Rolle gespielt hat; es ist ihnen aber auch bekannt,<br />

daß die Entwicklung der „Meinung“ ihrerseits durch andere, tiefer liegende Ursachen<br />

bestimmt wird. Mit einem Wort, sie halten fest am historischen Materialismus. Indes, die Kritik<br />

der idealistischen Geschichtserklärung gehört durchaus nicht zu meiner Aufgabe. Ich muß meine<br />

Untersuchung darauf beschränken, wie der Materialist Dobroljubow den historischen Idealismus<br />

zur Erklärung [505] der Grundfragen der Literatur heranzieht. Von dieser Seite sind<br />

seine kritischen Artikel noch niemals untersucht worden.<br />

Er argumentierte folgendermaßen: Das ursprüngliche Unvermögen der Menschen, eine vernünftige<br />

– mit anderen Worten: natürliche – Gesellschaftsordnung zu schaffen, führt zur Entstehung<br />

künstlicher gesellschaftlicher Kombinationen, die in den Menschen nicht weniger künstliche<br />

Bestrebungen hervorrufen. Die Literatur dient oft als Ausdruck solcher Bestrebungen, und insofern<br />

sie diese zum Ausdruck bringt, wird sie von Dobroljubow scharf verurteilt. Er schreibt:<br />

„All die Schriftsteller, die zum Beispiel Illuminationen, Militärparaden, Gemetzel und Plünderungen<br />

auf Geheiß irgendeines Ehrgeizigen besingen, schmeichlerische Dithyramben, Inschriften<br />

und Madrigale verfassen, können in unseren Augen keinerlei Bedeutung besitzen, denn sie<br />

sind gar weit entfernt von den natürlichen Bestrebungen und Bedürfnissen des Volkes.“ 2<br />

Dobroljubow weigert sich, die Repräsentanten der künstlichen gesellschaftlichen Bestrebungen<br />

als „wahre Schriftsteller“ anzuerkennen. Er meint verächtlich, sie verhalten sich zu wahren<br />

Schriftstellern wie Astrologen zu Astronomen, wie Diener des Aberglaubens zu Männern<br />

der Wissenschaft. Diese Ansicht über die Literatur, die in engstem Zusammenhang mit der<br />

Geschichtsauffassung steht, bestimmt bei Dobroljubow auch die Aufgabe der Literaturkritik.<br />

Diese Aufgabe besteht vor allem darin, zu bestimmen, ob der Künstler die künstlichen oder<br />

die natürlichen Bestrebungen einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Volkes zum Ausdruck<br />

bringt. Da die Repräsentanten der künstlichen Bestrebungen keine Anteilnahme verdienen,<br />

beschäftigt sich die Kritik mit ihnen nur zur Enthüllung der mehr oder weniger schädlichen<br />

Lüge, die in ihren Schriften enthalten ist. Was jene Schriftsteller betrifft, die die natürlichen<br />

Bestrebungen der Menschheit zum Ausdruck bringen, so muß die Kritik klären, in<br />

welchem Maße der Schriftsteller verstanden hat, sie zu begreifen, ob er das Wesen der Sache<br />

1 Der historische Idealismus Hegels übernahm diese These nur mit sehr wesentlichen Einschränkungen, die den<br />

Weg für den historischen Materialismus ebneten. Aber davon ist hier nicht die Rede.<br />

2 Werke Dobroljubows, Bd. III, S. 424. [Zit. Werk, S. 641.]<br />

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