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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 gekehrte Annahme, nämlich: daß diese Gegenstände anfänglich nur als Aushängeschild der Kühnheit, Geschicklichkeit und Kraft getragen wurden und erst dann und namentlich als Folge dessen, daß sie das Aushängeschild der Kühnheit, Geschicklichkeit und Kraft waren, anfingen, ästhetische Gefühle hervorzurufen und in die Kategorie der Schmuckgegenstände gerieten. Es ergibt sich, daß sich die ästhetischen Empfindungen „bei den Wilden nicht nur mit komplizierten Ideen assoziieren können“, sondern manchmal auch gerade unter dem Einfluß solcher Ideen entstehen. Ein anderes Beispiel. Bekanntlich tragen die Frauen vieler afrikanischer Stämme an den Armen und Beinen eiserne Reifen. Die Frauen der Reichen tragen manchmal nahezu einen halben Zentner solcher Schmuckgegenstände an sich. 1 Das ist natürlich sehr unbequem, aber diese Unbequemlichkeit hindert sie nicht, wie Schweinfurth sich ausdrückt, diese Sklavenketten mit Vergnügen zu tragen. Warum ist es der Negerin angenehm, solche Ketten mit sich herumzuschleppen? Weil sie damit sich und anderen schön erscheint. Und warum hält sie sich für schön? Das geht kraft einer ziemlich komplizierten Ideenassoziation vor sich. Die Leidenschaft für solchen Schmuck entwickelt sich namentlich bei Stämmen, die, nach den Worten Schweinfurths, jetzt das Eisenzeitalter durchmachen, d. h. mit anderen Worten, bei denen das Eisen ein kostbares Metall ist. Das Kostbare erscheint als schön, weil sich damit die Idee des Reichtums assoziiert. Nachdem die Frau der Dinkas, nehmen wir mal an, zwanzig Pfund eiserne Reifen angelegt hat, kommt sie sich und anderen schöner vor, als da sie nur zwei trug, d. h. als sie ärmer war. Es ist klar, hier handelt es sich nicht um die Schönheit der Reifen, sondern um die Idee, die sich damit assoziiert. Ein drittes Beispiel. Beim Stamm der Batongas am Oberlauf des [49] Sambesi gilt ein Mensch, dem die oberen Schneidezähne nicht ausgezogen worden sind, als unschön. Woher kommt dieser seltsame Schönheitsbegriff? Er hat sich ebenfalls kraft einer ziemlich komplizierten Ideenassoziation herausgebildet. Durch das Ausziehen der oberen Schneidezähne wollen die Batongas die Wiederkäuer nachahmen. Wir halten das für ein etwas unverständliches Bestreben. Aber die Batongas sind ein Hirtenstamm, der seine Kühe und Stiere fast vergöttert. 2 Wieder ist hier das schön, was kostbar ist, und die ästhetischen Begriffe entstehen auf der Grundlage von Ideen ganz anderer Ordnung. Nehmen wir schließlich ein Beispiel, das, nach Worten Livingstones, von Darwin selbst angeführt wird. Die Frauen des Stammes Makololo durchstechen sich die Oberlippe und tragen in der Öffnung einen großen Metall- oder Bambusring, Pelelé genannt. Als man einen Häuptling dieses Stammes fragte, warum die Frauen solche Ringe tragen, gab er, „offenbar erstaunt über diese Frage“, zur Antwort: „Der Schönheit wegen! Es sind dies die einzigen schönen Dinge, welche die Frauen haben. Männer haben Bärte, Frauen haben keine. Was für eine Art Person würde die Frau sein ohne das Pelelé?“ 3 Es läßt sich jetzt schwer überzeugend sagen, woher die Sitte, ein Pelelé zu tragen, stammt, aber es ist klar, daß man ihre Herkunft in irgendeiner sehr komplizierten Ideenassoziation zu suchen hat und nicht in den Gesetzen der Biologie, zu denen sie augenscheinlich nicht die geringste (unmittelbare) Beziehung hat. 4 Angesichts dieser Beispiele halte ich mich für berechtigt, zu behaupten, daß die Gefühle, die 1 Schweinfurth, „Au cœur de l’Afrique“, Paris 1875, t. I, p. 148. [„Im Herzen von Afrika“, Erster Teil, Leipzig 1874, S. 148.] Siehe auch Du Chaillu, „Voyages et aventures dans l’Afrique équatoriale“‚ Paris 1863, p. 11. 2 Schweinfurth, 1. c., I, 148. [Ebenda.] 3 [Charles Darwin, „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“, Zweiter Band, Stuttgart 1872, S. 500.] 4 In der weiteren Darlegung werde ich versuchen, sie zu erklären, indem ich die Entwicklung der Produktivkräfte in der Urgesellschaft in Erwägung ziehe. 6

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 durch gewisse Verbindungen von Farben oder durch die Form der Gegenstände hervorgerufen werden, sich selbst bei den primitiven Völkern mit äußerst komplizierten Ideen assoziieren und daß zumindest viele dieser Formen und Verbindungen ihnen nur durch eine solche Assoziation als schön erscheinen. Wodurch wird sie nun hervorgerufen? Und woher kommen diese komplizierten Ideen, die sich mit den Empfindungen assoziieren, die in uns durch das Aussehen der Gegenstände hervorgerufen werden? Offensichtlich kann auf diese Fragen nicht der Biologe, sondern nur der Soziologe antworten. Und wenn die materialistische Betrachtung der Geschichte mehr zu ihrer Lösung beiträgt als irgendeine andere Auffassung; wenn wir die Überzeugung gewinnen, daß die angeführte Assoziation und die erwähnten komplizierten Ideen letzten Endes bedingt und geschaffen [50] werden durch den Zustand der Produktivkräfte einer gegebenen Gesellschaft und ihrer Ökonomik, so muß man zugeben, daß der Darwinismus der materialistischen Betrachtung der Geschichte, die ich oben zu kennzeichnen bestrebt war, nicht im geringsten widerspricht. Ich kann hier nicht viel über das Verhältnis des Darwinismus zu dieser Anschauung sagen. Aber ein paar Worte will ich trotzdem noch darüber verlieren. Beachten Sie nachstehende Zeilen: „Es dürfte zweckmäßig sein, zunächst voranzuschicken, daß ich nicht behaupten will, daß jedes streng soziale Tier, wenn nur seine intellektuellen Fähigkeiten zu gleicher Tätigkeit und gleicher Höhe wie beim Menschen entwickelt wären, genau dasselbe moralische Gefühl wie der Mensch erhalten würde. In derselben Weise, wie verschiedene Tiere ein gewisses Gefühl von Schönheit haben, trotzdem sie sehr verschiedene Gegenstände bewundern, können sie auch ein Gefühl von Recht und Unrecht haben, trotzdem sie durch dasselbe veranlaßt werden, sehr verschiedene Arten von Benehmen zu zeigen. Um einen extremen Fall anzuführen: wäre z. B. der Mensch unter genau denselben Zuständen erzogen wie die Stockbiene, so dürfte sich kaum zweifeln lassen, daß unsere unverheirateten Weibchen es ebenso wie die Arbeiterbienen für eine heilige Pflicht halten würden, ihre Brüder zu töten, und die Mütter würden suchen, ihre fruchtbaren Töchter zu vertilgen, und niemand würde daran denken, dies zu verhindern. Nichtsdestoweniger würde in unserem angenommenen Falle die Biene oder irgendein anderes soziales Tier, wie es mir scheint, doch irgendein Gefühl von Recht und Unrecht oder ein Gewissen erhalten.“ 1 Was folgt aus diesen Worten? Daß es in den sittlichen Begriffen der Menschen nichts Absolutes gibt; daß sie sich gleichzeitig mit den Veränderungen jener Bedingungen, unter denen die Menschen leben, verändern. Und wodurch werden diese Bedingungen geschaffen? Wodurch werden ihre Veränderungen hervorgerufen? Hierüber sagt Darwin nichts, und wenn wir sagen und beweisen, daß sie durch den Zustand der Produktivkräfte geschaffen werden und sich infolge der Entwicklung dieser Kräfte verändern, dann setzen wir uns nicht nur nicht in Gegensatz zu Darwin, sondern, im Gegenteil, wir ergänzen, was er gesagt hat, wir erklären, was bei ihm ungeklärt geblieben ist, und tun das, indem wir beim Studium der gesellschaftlichen Erscheinungen das gleiche Prinzip anwenden, das ihm in der Biologie so ungeheure Dienste geleistet hat. Es ist überhaupt äußerst seltsam, den Darwinismus den von mir vertretenen Ansichten über die Geschichte entgegenzusetzen. Das Gebiet [51] Darwins war ein ganz anderes. Er untersuchte die Abstammung des Menschen als einer zoologischen Art. Die Anhänger der materialistischen Auffassung wollen das historische Schicksal dieser Art erklären. Ihr Forschungsgebiet beginnt gerade dort, wo das Forschungsgebiet der Darwinisten aufhört. Ihre Arbeiten 1 „Die Abstammung des Menschen“, Bd. II, S. 52. [Zit. Werk, Erster Band, Stuttgart 1871, S. 61/62.] 7

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

gekehrte Annahme, nämlich: daß diese Gegenstände anfänglich nur als Aushängeschild der<br />

Kühnheit, Geschicklichkeit und Kraft getragen wurden und erst dann und namentlich als Folge<br />

dessen, daß sie das Aushängeschild der Kühnheit, Geschicklichkeit und Kraft waren, anfingen,<br />

ästhetische Gefühle hervorzurufen und in die Kategorie der Schmuckgegenstände<br />

gerieten. Es ergibt sich, daß sich die ästhetischen Empfindungen „bei den Wilden nicht nur<br />

mit komplizierten Ideen assoziieren können“, sondern manchmal auch gerade unter dem Einfluß<br />

solcher Ideen entstehen.<br />

Ein anderes Beispiel. Bekanntlich tragen die Frauen vieler afrikanischer Stämme an den Armen<br />

und Beinen eiserne Reifen. Die Frauen der Reichen tragen manchmal nahezu einen halben<br />

Zentner solcher Schmuckgegenstände an sich. 1<br />

Das ist natürlich sehr unbequem, aber diese Unbequemlichkeit hindert sie nicht, wie<br />

Schweinfurth sich ausdrückt, diese Sklavenketten mit Vergnügen zu tragen. Warum ist es der<br />

Negerin angenehm, solche Ketten mit sich herumzuschleppen? Weil sie damit sich und anderen<br />

schön erscheint. Und warum hält sie sich für schön? Das geht kraft einer ziemlich komplizierten<br />

Ideenassoziation vor sich. Die Leidenschaft für solchen Schmuck entwickelt sich<br />

namentlich bei Stämmen, die, nach den Worten Schweinfurths, jetzt das Eisenzeitalter<br />

durchmachen, d. h. mit anderen Worten, bei denen das Eisen ein kostbares Metall ist. Das<br />

Kostbare erscheint als schön, weil sich damit die Idee des Reichtums assoziiert. Nachdem die<br />

Frau der Dinkas, nehmen wir mal an, zwanzig Pfund eiserne Reifen angelegt hat, kommt sie<br />

sich und anderen schöner vor, als da sie nur zwei trug, d. h. als sie ärmer war. Es ist klar, hier<br />

handelt es sich nicht um die Schönheit der Reifen, sondern um die Idee, die sich damit assoziiert.<br />

Ein drittes Beispiel. Beim Stamm der Batongas am Oberlauf des [49] Sambesi gilt ein<br />

Mensch, dem die oberen Schneidezähne nicht ausgezogen worden sind, als unschön. Woher<br />

kommt dieser seltsame Schönheitsbegriff? Er hat sich ebenfalls kraft einer ziemlich komplizierten<br />

Ideenassoziation herausgebildet. Durch das Ausziehen der oberen Schneidezähne wollen<br />

die Batongas die Wiederkäuer nachahmen. Wir halten das für ein etwas unverständliches<br />

Bestreben. Aber die Batongas sind ein Hirtenstamm, der seine Kühe und Stiere fast vergöttert.<br />

2 Wieder ist hier das schön, was kostbar ist, und die ästhetischen Begriffe entstehen auf<br />

der Grundlage von Ideen ganz anderer Ordnung.<br />

Nehmen wir schließlich ein Beispiel, das, nach Worten Livingstones, von Darwin selbst angeführt<br />

wird. Die Frauen des Stammes Makololo durchstechen sich die Oberlippe und tragen<br />

in der Öffnung einen großen Metall- oder Bambusring, Pelelé genannt. Als man einen Häuptling<br />

dieses Stammes fragte, warum die Frauen solche Ringe tragen, gab er, „offenbar erstaunt<br />

über diese Frage“, zur Antwort: „Der Schönheit wegen! Es sind dies die einzigen schönen<br />

Dinge, welche die Frauen haben. Männer haben Bärte, Frauen haben keine. Was für eine Art<br />

Person würde die Frau sein ohne das Pelelé?“ 3 Es läßt sich jetzt schwer überzeugend sagen,<br />

woher die Sitte, ein Pelelé zu tragen, stammt, aber es ist klar, daß man ihre Herkunft in irgendeiner<br />

sehr komplizierten Ideenassoziation zu suchen hat und nicht in den Gesetzen der<br />

Biologie, zu denen sie augenscheinlich nicht die geringste (unmittelbare) Beziehung hat. 4<br />

Angesichts dieser Beispiele halte ich mich für berechtigt, zu behaupten, daß die Gefühle, die<br />

1 Schweinfurth, „Au cœur de l’Afrique“, Paris 1875, t. I, p. 148. [„Im Herzen von Afrika“, Erster Teil, Leipzig<br />

1874, S. 148.] Siehe auch Du Chaillu, „Voyages et aventures dans l’Afrique équatoriale“‚ Paris 1863, p. 11.<br />

2 Schweinfurth, 1. c., I, 148. [Ebenda.]<br />

3 [Charles Darwin, „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“, Zweiter Band, Stuttgart<br />

1872, S. 500.]<br />

4 In der weiteren Darlegung werde ich versuchen, sie zu erklären, indem ich die Entwicklung der Produktivkräfte<br />

in der Urgesellschaft in Erwägung ziehe.<br />

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