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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013 [495] Dieses Jahr ist das Jahr der Gedenktage. Dobroljubow und Ostrowski* Im Mai waren hundert Jahre vergangen seit dem Geburtstage Belinskis; im Juni jährte sich zum fünfundzwanzigsten Male der Todestag Ostrowskis; im Oktober sind fünfzig Jahre verflossen seit dem Tode Nikitins und im November fünfzig Jahre seit dem Tode Dobroljubows. Das sind, wie Sie sehen, lauter literarische Gedenktage, und zwar Jubiläen, an denen die Gefeierten nicht teilnehmen können, weil sie der Tod bereits von der literarischen Bühne abberufen hat. Unwillkürlich denkt man an den Ausruf Taines: „Quel cimetière, quelle histoire!“ [„Welch ein Friedhof, was für eine Geschichte !“] Die Geschichte im allgemeinen – und folglich auch die Geschichte der Literatur – kann man in der Tat als einen riesigen Friedhof bezeichnen: es gibt mehr Tote als Lebende. Aber dieser riesige Friedhof, in dem die Vergangenheit ruht, ist zugleich die Wiege der Zukunft. Wer „an die Verwandtschaft denkt“, dem kann es nicht schaden, ab und zu über diesen Friedhof zu gehen: das Gewesene erleichtert uns das Verständnis für das Kommende. Deshalb lade ich den Leser ein, zusammen mit mir die Gräber Dobroljubows und Ostrowskis aufzusuchen. Ich mache von vornherein darauf aufmerksam: eine nach allen Seiten hin sich erstreckende Übersicht über ihre literarische Tätigkeit gehört ganz und gar nicht zu meinem Plan; das würde zuviel Platz erfordern. Ich muß mich auf die Charakteristik der Ansichten Dobroljubows über die Theaterstücke Ostrowskis beschränken. Eine solche Charakteristik wird uns mit dem Eindruck bekannt machen, den die erwähnten Stücke auf einen der beachtenswertesten Vertreter der überaus beachtenswerten Epoche der sechziger Jahre gemacht haben. Und die Bekanntschaft mit diesem Eindruck wird in unserem Gedächtnis die Hauptmerkmale der führenden Literaturkritik dieser bemerkenswerten Epoche wachrufen. I Dobroljubow hat Ostrowski drei Artikel gewidmet. Die ersten zwei haben den gemeinsamen Titel „Das finstere Reich“ und sind in der siebenten und neunten Nummer des „Sowremennik“, Jahrgang 1859, er-[496]schienen; der dritte ist überschrieben „Ein Lichtstrahl im finsteren Reich“ und wurde im darauffolgenden Jahr, in Heft zehn der gleichen Zeitschrift, gedruckt. Gleich am Anfang des ersten dieser drei Artikel äußert Dobroljubow seine Verwunderung über das Geschick, das Ostrowski als Schriftsteller zuteil wurde. Einander völlig entgegengesetzte, einander ausschließende Vorwürfe waren wider ihn erhoben worden; einander völlig entgegengesetzte, miteinander nicht zu vereinbarende Anforderungen hatte man an ihn gestellt. Bald stellten ihn seine Kritiker als Obskuranten und Hurrapatrioten hin, bald als direkten Fortsetzer Gogols in seiner besten Zeit; bald als Schriftsteller mit einer neuen Weltanschauung, bald als Menschen, dem jedes Verständnis für die von ihm kopierte Wirklichkeit abging. „Niemand hat bisher“, so sagt unser Kritiker, „die Züge angegeben, die den wesentlichen Sinn seiner Werke bilden, geschweige denn eine volle Charakteristik Ostrowskis gegeben.“ Der Darstellung dieser Züge waren nun gerade die zwei Artikel über „Das finstere Reich“ gewidmet. Dobroljubow wendet sich Ostrowski zu und fragt zunächst, wodurch das seltsame Geschick, das Ostrowski zuteil geworden war, wohl hervorgerufen wurde. „Vielleicht ändert Ostrowski tatsächlich so oft seine Richtung, daß sein Charakter bisher sich nicht fest ausprägen konnte? Oder gelangte er, im Gegenteil, von allem Anfang an, wie die Kritik des ‚Moskwitjanin‘ be- * Anmerkungen zu: Dobroljubow und Ostrowski (S. 495-521) am Ende des Kapitels. 1

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013 hauptete, auf eine Höhe, die das Auffassungsvermögen der heutigen Kritik übersteigt?“ 1 Dobroljubow meint, keine der beiden Erklärungen sei brauchbar. Der Grund des „Durcheinanders“ in den Urteilen über Ostrowski besteht gerade darin, daß man ihn zum Vertreter dieses oder jenes Systems von Anschauungen machen wollte. Jeder Kritiker hat sein beachtenswertes Talent anerkannt. Aber mit solcher Anerkennung wollte jeder Kritiker in ihm einen Vorkämpfer jenes Systems von Anschauungen sehen, dem er selbst anhing. Die Slawophilen hielten ihn für einen Ihrigen, die Westler zählten ihn zu ihrem Lager. Da er in Wirklichkeit weder slawophil noch westlerisch eingestellt war – wenigstens nicht in seinen Schriften –‚ konnte man weder in diesem noch in jenem Lager mit ihm zufrieden sein. Die slawophile Zeitschrift „Russkaja Besseda“ beklagte sich, daß „er es zuweilen an mutiger Entschlossenheit in der Ausführung seines Vorhabens fehlen läßt“, daß ihm „gewissermaßen eine falsche Scham und eine schüchterne Art, die sich in ihm durch einen natürlichen Hang herausgebildet hatten, hindernd im Wege stehen“; im Gegensatz hierzu bedauerte die westlerisch eingestellte Zeitschrift „Atenej“, daß Ostrowski in seinen dramatischen Werken die [497] Empfindung und den freien Willen des Menschen Prinzipien untergeordnet habe, „die bei unseren Slawophilen volkstümlich genannt werden“. Die Kritik wollte Ostrowski nicht offen und einfach als einen Schriftsteller betrachten, der das Leben eines bestimmten Teils der russischen Gesellschaft darstellte. Sie sah in ihm den Verkünder der mit den Auffassungen dieser oder jener Partei übereinstimmenden Moral. Daher auch die Verwirrung in ihren Urteilen. Ostrowskis seltsames Geschick ist also daraus zu erklären, daß er ein Opfer der Polemik zwischen den beiden entgegengesetzten Lagern wurde. Dobroljubow seinerseits will Ostrowski offen, einfach und unabhängig von irgendwelchen parteiischen Meinungen betrachten. Er bezeichnet seinen Standpunkt als Standpunkt der realen Kritik, deren Besonderheiten in folgendem bestehen. Erstens schreibt sie nichts vor, sondern sie studiert. Sie fordert nicht, der Autor solle doch so und nicht anders schreiben; sie untersucht nur, was er schreibt, und weiter nichts. „Natürlich“, so fügt Dobroljubow erklärend dazu, „wir stellen nicht in Abrede, daß es besser wäre, wenn Ostrowski Aristophanes, Molière und Shakespeare in sich vereinigte; wir wissen jedoch, daß dies nicht der Fall ist, daß es unmöglich ist, und trotzdem halten wir Ostrowski für einen hervorragenden Schriftsteller in unserer Literatur und finden, daß er auch an sich, so wie er ist, gar nicht übel ist und verdient, von uns beachtet und studiert zu werden...“ 2 Zweitens schreibt die reale Kritik dem Autor nicht ihre eigenen Gedanken zu. Das ist so zu verstehen. Nehmen wir an, der Autor habe in einem Werk eine Person dargestellt, die sich durch Anhänglichkeit an die alten Vorurteile auszeichnet. Gleichzeitig wird der Charakter dieser Person als gut und schön herausgestellt. Daraus ziehen manche Kritiker sofort den Schluß, der Autor wolle für das Alte eintreten. Gegen derartige Schlußfolgerungen wendet sich Dobroljubow ganz entschieden. „... für die reale Kritik“, so sagt er, „kommt hier in erster Linie die Tatsache in Betracht: der Autor führt einen guten, nicht einen dummen Menschen vor, der mit alten Vorurteilen behaftet ist. Dann prüft die Kritik, ob eine solche Person möglich und in Wirklichkeit vorhanden ist; nachdem sie dann gefunden hat, daß die Person der Wirklichkeit entspricht, stellt sie ihre eigenen Betrachtungen an über die Ursachen, die diese Person hervorgebracht haben, usw. Sind im Werk des zur Erörterung stehenden Autors diese Ursachen angegeben, so bedient sich die Kritik auch [498] ihrer und dankt dem Autor; ist das nicht der Fall, so setzt sie ihm nicht das Messer an die Kehle und fragt nicht, wie er es denn gewagt habe, eine solche Per- 1 [N. A. Dobroljubow, Ausgewählte philosophische Schriften, S. 284, deutsch.] 2 Werke N. A. Dobroljubows, Petersburg, 4. Ausgabe, A. F. Pantelejew, Bd. III, S. 13. [Zit. Werk, S. 289.] 2

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

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Dieses Jahr ist das Jahr der Gedenktage.<br />

Dobroljubow und Ostrowski*<br />

Im Mai waren hundert Jahre vergangen seit dem Geburtstage Belinskis; im Juni jährte sich<br />

zum fünfundzwanzigsten Male der Todestag Ostrowskis; im Oktober sind fünfzig Jahre verflossen<br />

seit dem Tode Nikitins und im November fünfzig Jahre seit dem Tode Dobroljubows.<br />

Das sind, wie Sie sehen, lauter literarische Gedenktage, und zwar Jubiläen, an denen die Gefeierten<br />

nicht teilnehmen können, weil sie der Tod bereits von der literarischen Bühne abberufen<br />

hat. Unwillkürlich denkt man an den Ausruf Taines: „Quel cimetière, quelle histoire!“<br />

[„Welch ein Friedhof, was für eine Geschichte !“] Die Geschichte im allgemeinen – und folglich<br />

auch die Geschichte der Literatur – kann man in der Tat als einen riesigen Friedhof bezeichnen:<br />

es gibt mehr Tote als Lebende. Aber dieser riesige Friedhof, in dem die Vergangenheit<br />

ruht, ist zugleich die Wiege der Zukunft. Wer „an die Verwandtschaft denkt“, dem<br />

kann es nicht schaden, ab und zu über diesen Friedhof zu gehen: das Gewesene erleichtert<br />

uns das Verständnis für das Kommende. Deshalb lade ich den Leser ein, zusammen mit mir<br />

die Gräber Dobroljubows und Ostrowskis aufzusuchen.<br />

Ich mache von vornherein darauf aufmerksam: eine nach allen Seiten hin sich erstreckende<br />

Übersicht über ihre literarische Tätigkeit gehört ganz und gar nicht zu meinem Plan; das würde<br />

zuviel Platz erfordern. Ich muß mich auf die Charakteristik der Ansichten Dobroljubows<br />

über die Theaterstücke Ostrowskis beschränken. Eine solche Charakteristik wird uns mit dem<br />

Eindruck bekannt machen, den die erwähnten Stücke auf einen der beachtenswertesten Vertreter<br />

der überaus beachtenswerten Epoche der sechziger Jahre gemacht haben. Und die Bekanntschaft<br />

mit diesem Eindruck wird in unserem Gedächtnis die Hauptmerkmale der führenden<br />

Literaturkritik dieser bemerkenswerten Epoche wachrufen.<br />

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Dobroljubow hat Ostrowski drei Artikel gewidmet. Die ersten zwei haben den gemeinsamen<br />

Titel „Das finstere Reich“ und sind in der siebenten und neunten Nummer des „Sowremennik“,<br />

Jahrgang 1859, er-[496]schienen; der dritte ist überschrieben „Ein Lichtstrahl im finsteren<br />

Reich“ und wurde im darauffolgenden Jahr, in Heft zehn der gleichen Zeitschrift, gedruckt.<br />

Gleich am Anfang des ersten dieser drei Artikel äußert Dobroljubow seine Verwunderung<br />

über das Geschick, das Ostrowski als Schriftsteller zuteil wurde. Einander völlig entgegengesetzte,<br />

einander ausschließende Vorwürfe waren wider ihn erhoben worden; einander<br />

völlig entgegengesetzte, miteinander nicht zu vereinbarende Anforderungen hatte man an ihn<br />

gestellt. Bald stellten ihn seine Kritiker als Obskuranten und Hurrapatrioten hin, bald als direkten<br />

Fortsetzer Gogols in seiner besten Zeit; bald als Schriftsteller mit einer neuen Weltanschauung,<br />

bald als Menschen, dem jedes Verständnis für die von ihm kopierte Wirklichkeit<br />

abging. „Niemand hat bisher“, so sagt unser Kritiker, „die Züge angegeben, die den wesentlichen<br />

Sinn seiner Werke bilden, geschweige denn eine volle Charakteristik Ostrowskis gegeben.“<br />

Der Darstellung dieser Züge waren nun gerade die zwei Artikel über „Das finstere<br />

Reich“ gewidmet.<br />

Dobroljubow wendet sich Ostrowski zu und fragt zunächst, wodurch das seltsame Geschick,<br />

das Ostrowski zuteil geworden war, wohl hervorgerufen wurde. „Vielleicht ändert Ostrowski<br />

tatsächlich so oft seine Richtung, daß sein Charakter bisher sich nicht fest ausprägen konnte?<br />

Oder gelangte er, im Gegenteil, von allem Anfang an, wie die Kritik des ‚Moskwitjanin‘ be-<br />

* Anmerkungen zu: Dobroljubow und Ostrowski (S. 495-521) am Ende des Kapitels.<br />

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