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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013 Der berühmte französische Maler der Romantik Delacroix bemerkt in seinem Tagebuch, die Bilder des nicht weniger berühmten David stellten [492] eine eigenartige Mischung von Realismus und Idealismus dar. 1 Das ist völlig richtig und – was uns hier besonders wichtig – trifft nicht nur auf David zu. Es trifft überhaupt auf die Kunst zu, die das Streben der neuen gesellschaftlichen Schichten zum Ausdruck bringt, die um ihre Befreiung ringen. Das Leben der herrschenden Klasse erscheint der neuen, aufsteigenden und unzufriedenen Klasse als anomal und verdammenswert, darum werden sie von der Art der Maler, dieses Leben zu reproduzieren, nicht befriedigt, sie erscheint ihnen als gekünstelt. Die neue Klasse bringt eigene Künstler hervor, die im Kampf mit der alten Schule an das Leben appellieren, als Realisten auftreten. Und das Leben, an das sie appellieren, ist „das schöne Leben wie es sein soll“ ... nach den Begriffen der neuen Klasse. Dieses Leben ist noch nicht fertig gestaltet – die neue Klasse strebt ja erst noch nach ihrer Befreiung –‚ es bleibt in beträchtlichem Maße selbst noch Ideal. Deshalb wird auch die von den Vertretern der neuen Klasse geschaffene Kunst eine „eigenartige Mischung von Realismus und Idealismus“ sein. Und von einer Kunst, die eine solche Mischung ist, kann man nicht sagen, sie strebe nach der Reproduktion des Schönen, wie es in der Wirklichkeit vorhanden ist. Nein, Künstler dieser Art sind und können nicht befriedigt sein von der Wirklichkeit; sie und die ganze von ihnen vertretene Klasse wollen diese Wirklichkeit entsprechend ihrem Ideal teils umgestalten, teils ergänzen. Hinsichtlich solcher Künstler und einer solchen Kunst war der Gedanke Tschernyschewskis falsch. Es ist beachtenswert, daß auch die russische Kunst zur Zeit Tschernyschewskis eine eigenartige, sehr anziehende Mischung von Realismus und Idealismus war. Das erklärt uns, warum sich die Theorie Tschernyschewskis, die einen strengen Realismus forderte, in der Anwendung auf diese Kunst als zu eng erwies. Tschernyschewski war selbst ein Sohn seiner Zeit – und gar was für einer. Er hielt sich nicht nur nicht von den führenden Idealen seiner Zeit fern, sondern war ihr ergebenster und stärkster Verteidiger. Darum hat seine Theorie, die den strengen Realismus vertrat, auch dem Idealismus seinen Platz eingeräumt. Tschernyschewski sagt, daß die Kunst das Leben nicht nur reproduziere, sondern auch interpretiere, als Lehrbuch des Lebens diene. Er selbst interessierte sich für die Kunst hauptsächlich als für ein Lehrbuch des Lebens, und in seinen kritischen Artikeln hatte er sich die Aufgabe gestellt, den Künstlern bei der Interpretation der Lebenserscheinungen zu helfen. Genauso verfuhr sein literarisch Nachfolger Dobroljubow: man braucht nur an seinen berühmten und wahrhaft ausgezeichneten Artikel „Wann endlich kommt der Tag?“ zu erinnern, der anläßlich Turgenews Erzählung „Am Vorabend“ geschrieben wurde. [493] In diesem Artikel sagt Dobroljubow: „Der Künstler, der gar keine allgemeinen Schlüsse über den Zustand der Gedankenwelt, der Öffentlichkeit und der Sitten zu ziehen beabsichtigt, versteht jedoch stets, ihre wesentlichen Züge zu erfassen, sie hell zu beleuchten und sie unmittelbar vor die Augen des denkenden Menschen hinzustellen. Darum denken wir auch, daß, sobald wir dem Dichter Begabung zusprechen, d. h. die Fähigkeit, die Lebenswahrheit der Erscheinungen zu fühlen und darzustellen, seine Werke schon kraft ebendieser Anerkennung den gerechtfertigten Anlaß zu Erörterungen über das Milieu und die Epoche geben, die den Schriftsteller zu diesem oder jenem Werk angeregt haben. Und zum Maßstab des Talents wird hier, in welchem Grade das Leben erfaßt ist, in welchem Maße die Gestalten, die er geschaffen hat, dauerhaft und umfassend sind.“ 2 Demgemäß stellte Dobroljubow als Hauptaufgabe der literarischen Kritik hin: „die Klarlegung jener Erscheinungen der Wirklichkeit, die die Anregung zu einem bestimmten Kunstwerk gegeben haben“. 3 So war die ästhetische Theorie Tschernyschewskis und Dobroljubows selbst ein eigenartiges Ge- 1 Siehe „Journal d’Eugène Delacroix“, Paris 1893, t. III, p. 382. 2 [N. A. Dobroljubow, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1951, S. 454, deutsch.] 3 [Ebenda, S. 455.] 31

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013 misch von Realismus und Idealismus. Bei der Erläuterung der Lebenserscheinungen begnügte sie sich nicht mit der Feststellung dessen, was ist, sondern wies auch – und sogar hauptsächlich – auf das hin, was sein soll. Sie negierte die bestehende Wirklichkeit und war in diesem Sinne Ausdruck der damaligen „negativen“ Richtung. Aber sie verstand nicht, „die Idee der Negation zu entwickeln“, wie sich darüber einmal Belinski ausgedrückt hat; sie verstand nicht, diese Idee mit dem objektiven Gang der Entwicklung des russischen gesellschaftlichen Lebens in Zusammenhang zu bringen – kurz gesagt, sie verstand nicht, ihr eine soziologische Grundlage zu geben. Darin bestand ihr Hauptfehler. Und wenn man auf dem Standpunkt Feuerbachs verharrte, konnte man diesen Fehler nicht beseitigen oder auch nur bemerken. Er wird nur bemerkbar vom Standpunkt der Marxschen Lehre. Der Raum gestattet uns nicht, die einzelnen Thesen Tschernyschewskis zu kritisieren. Wir wollen uns deshalb auf eine einzige Bemerkung beschränken. Tschernyschewski hat die idealistische Definition des Erhabenen als Ausdruck der Idee des Unendlichen entschieden zurückgewiesen. Er hatte recht, weil die Idealisten unter der Idee des Unendlichen die absolute Idee verstanden, für die in der Lehre Feuerbachs und Tschernyschewskis kein Raum war. Aber geirrt hat er sich, als er sagte: obgleich der Inhalt des Erhabenen uns auf verschiedene Gedanken bringen kann, welche den davon empfangenen Eindruck verstärken, bleibt der Gegen-[494]stand an und für sich, der einen solchen Eindruck hervorruft, unabhängig von diesen Gedanken erhaben. Daraus ergibt sich logischerweise der Schluß, daß das Erhabene für sich selbst existiert, unabhängig von unseren Gedanken darüber. Nach Ansicht Tschernyschewskis ist der Gegenstand selbst für uns das Erhabene und nicht die von ihm hervorgerufene Stimmung. Aber die von ihm selbst angeführten Beispiele widerlegen ihn. Er sagt, der Montblanc und der Kasbek sind erhabene Berge, aber niemand wird sagen, sie seien unendlich groß. Das ist richtig; aber ebensowenig wird jemand sagen, daß sie an und für sich erhaben seien, unabhängig von dem ihrerseits in uns hervorgebrachten Eindruck. Das gleiche ist auch vom Schönen zu sagen. Nach Tschernyschewski folgt einerseits, das Schöne in der Wirklichkeit ist an sich schön; aber anderseits erklärt er doch selbst, daß uns nur das als schön erscheint, was unserer Auffassung vom „schönen Leben“, vom „Leben, wie es sein soll“, entspricht. Folglich sind Dinge nicht an sich schön. Diese Fehler unseres Autors erklären sich, kurz gesagt, aus dem von uns bereits angeführten Fehlen der dialektischen Auffassungsweise von den Dingen. Er verstand nicht, den wahren Zusammenhang zwischen Objekt und Subjekt zu finden, den Lauf der Ideen durch den Lauf der Dinge zu erklären. So geriet er notwendigerweise in Widerspruch mit sich selbst und legte gewissen Ideen, im Gegensatz zu dem ganzen Geist seiner Philosophie, objektive Bedeutung bei. Auch dieser Fehler konnte erst bemerkt werden, als die Philosophie Feuerbachs, die der ästhetischen Theorie Tschernyschewskis zugrunde lag, bereits „überholt“ war. Trotz alledem, für ihre Epoche war die Dissertation unseres Autors ein im höchsten Grade ernsthaftes und beachtenswertes Werk. Anmerkungen Der Aufsatz „Die ästhetische Theorie N. G. Tschernyschewskis“ war bestimmt für die Artikelserie „Das Schicksal der russischen Kritik“ als vierter Artikel für die Zeitschrift „Nowoje Slowo“, 1897, aber „infolge von Umständen, die nicht von der Redaktion abhingen, wurde nur eine Hälfte gedruckt“. Der Aufsatz wurde erstmals vollständig veröffentlicht in der Sammlung „Zwanzig Jahre“ (St. Petersburg 1908, S. 260-301); wir drucken den Text der Gesamtausgabe der Werke Plechanows, Bd. VI, S. 245-289. 32

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

Der berühmte französische Maler der Romantik Delacroix bemerkt in seinem Tagebuch, die<br />

Bilder des nicht weniger berühmten David stellten [492] eine eigenartige Mischung von Realismus<br />

und Idealismus dar. 1 Das ist völlig richtig und – was uns hier besonders wichtig –<br />

trifft nicht nur auf David zu. Es trifft überhaupt auf die Kunst zu, die das Streben der neuen<br />

gesellschaftlichen Schichten zum Ausdruck bringt, die um ihre Befreiung ringen. Das Leben<br />

der herrschenden Klasse erscheint der neuen, aufsteigenden und unzufriedenen Klasse als<br />

anomal und verdammenswert, darum werden sie von der Art der Maler, dieses Leben zu reproduzieren,<br />

nicht befriedigt, sie erscheint ihnen als gekünstelt. Die neue Klasse bringt eigene<br />

Künstler hervor, die im Kampf mit der alten Schule an das Leben appellieren, als Realisten<br />

auftreten. Und das Leben, an das sie appellieren, ist „das schöne Leben wie es sein soll“ ...<br />

nach den Begriffen der neuen Klasse. Dieses Leben ist noch nicht fertig gestaltet – die neue<br />

Klasse strebt ja erst noch nach ihrer Befreiung –‚ es bleibt in beträchtlichem Maße selbst<br />

noch Ideal. Deshalb wird auch die von den Vertretern der neuen Klasse geschaffene Kunst<br />

eine „eigenartige Mischung von Realismus und Idealismus“ sein. Und von einer Kunst, die<br />

eine solche Mischung ist, kann man nicht sagen, sie strebe nach der Reproduktion des Schönen,<br />

wie es in der Wirklichkeit vorhanden ist. Nein, Künstler dieser Art sind und können<br />

nicht befriedigt sein von der Wirklichkeit; sie und die ganze von ihnen vertretene Klasse wollen<br />

diese Wirklichkeit entsprechend ihrem Ideal teils umgestalten, teils ergänzen. Hinsichtlich<br />

solcher Künstler und einer solchen Kunst war der Gedanke Tschernyschewskis falsch. Es<br />

ist beachtenswert, daß auch die russische Kunst zur Zeit Tschernyschewskis eine eigenartige,<br />

sehr anziehende Mischung von Realismus und Idealismus war. Das erklärt uns, warum sich<br />

die Theorie Tschernyschewskis, die einen strengen Realismus forderte, in der Anwendung<br />

auf diese Kunst als zu eng erwies.<br />

Tschernyschewski war selbst ein Sohn seiner Zeit – und gar was für einer. Er hielt sich nicht<br />

nur nicht von den führenden Idealen seiner Zeit fern, sondern war ihr ergebenster und stärkster<br />

Verteidiger. Darum hat seine Theorie, die den strengen Realismus vertrat, auch dem<br />

Idealismus seinen Platz eingeräumt. Tschernyschewski sagt, daß die Kunst das Leben nicht<br />

nur reproduziere, sondern auch interpretiere, als Lehrbuch des Lebens diene. Er selbst interessierte<br />

sich für die Kunst hauptsächlich als für ein Lehrbuch des Lebens, und in seinen<br />

kritischen Artikeln hatte er sich die Aufgabe gestellt, den Künstlern bei der Interpretation der<br />

Lebenserscheinungen zu helfen. Genauso verfuhr sein literarisch Nachfolger Dobroljubow:<br />

man braucht nur an seinen berühmten und wahrhaft ausgezeichneten Artikel „Wann endlich<br />

kommt der Tag?“ zu erinnern, der anläßlich Turgenews Erzählung „Am Vorabend“ geschrieben<br />

wurde. [493] In diesem Artikel sagt Dobroljubow: „Der Künstler, der gar keine allgemeinen<br />

Schlüsse über den Zustand der Gedankenwelt, der Öffentlichkeit und der Sitten zu<br />

ziehen beabsichtigt, versteht jedoch stets, ihre wesentlichen Züge zu erfassen, sie hell zu beleuchten<br />

und sie unmittelbar vor die Augen des denkenden Menschen hinzustellen. Darum<br />

denken wir auch, daß, sobald wir dem Dichter Begabung zusprechen, d. h. die Fähigkeit, die<br />

Lebenswahrheit der Erscheinungen zu fühlen und darzustellen, seine Werke schon kraft<br />

ebendieser Anerkennung den gerechtfertigten Anlaß zu Erörterungen über das Milieu und die<br />

Epoche geben, die den Schriftsteller zu diesem oder jenem Werk angeregt haben. Und zum<br />

Maßstab des Talents wird hier, in welchem Grade das Leben erfaßt ist, in welchem Maße die<br />

Gestalten, die er geschaffen hat, dauerhaft und umfassend sind.“ 2 Demgemäß stellte Dobroljubow<br />

als Hauptaufgabe der literarischen Kritik hin: „die Klarlegung jener Erscheinungen der<br />

Wirklichkeit, die die Anregung zu einem bestimmten Kunstwerk gegeben haben“. 3 So war<br />

die ästhetische Theorie Tschernyschewskis und Dobroljubows selbst ein eigenartiges Ge-<br />

1 Siehe „Journal d’Eugène Delacroix“, Paris 1893, t. III, p. 382.<br />

2 [N. A. Dobroljubow, Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1951, S. 454, deutsch.]<br />

3 [Ebenda, S. 455.]<br />

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