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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

Bedürfnissen entsprach teils aber, und zwar meistens, als anomal – insofern seine Gestaltung<br />

durch künstliche Bedürfnisse des Menschen bedingt wird. An Hand eines solchen Kriteriums<br />

mußte man unschwer zu der Folgerung kommen, daß das Leben aller höheren Gesellschaftsklassen<br />

anomal ist. Und von da war nur ein kleiner Schritt zu der Schlußfolgerung, daß die<br />

Kunst, die dieses anomale Leben in verschiedenen Epochen zum Ausdruck brachte, eine falsche<br />

Kunst sei. Aber die Gesellschaft teilte sich bereits in jener weit zurückliegenden Zeit in<br />

Klassen, wo sie sich aus dem Zustand der Wildheit zu erheben begann. Folglich mußte<br />

Tschernyschewski die ganze Lebensgeschichte der Menschheit für falsch und anomal erklären<br />

und auch all die Vorstellungen über das Leben als mehr oder weniger falsch hinstellen,<br />

die im Laufe dieser langen Periode auf dieser anomalen Grundlage entstanden waren. Eine<br />

solche Ansicht über die Geschichte und über die Entwicklung der menschlichen Anschauungen<br />

konnte, was auch wirklich der Fall war, in den Epochen der gesellschaftlichen Veränderungen,<br />

in den Epochen der „Negation“, ein mächtiges Werkzeug des Kampfes sein. So<br />

nimmt es nicht wunder, daß unsere Aufklärer der sechziger Jahre so sehr daran festgehalten<br />

haben. Aber sie konnte nicht als Werkzeug der wissenschaftlichen Erklärung des historischen<br />

Prozesses dienen. Gerade deshalb konnte sie nicht der wissenschaftlichen Ästhetik zugrunde<br />

gelegt werden, von der Belinski einmal geträumt hatte und die nicht verurteilt – damit hat die<br />

„theoretische Vernunft“ überhaupt nichts zu tun –‚ son-[491]dern erklärt. Tschernyschewski<br />

hat die Kunst richtig als Reproduktion des „Lebens“ bezeichnet. Aber gerade weil die Kunst<br />

das „Leben“ reproduziert, konnte die wissenschaftliche Ästhetik – besser gesagt, die richtige<br />

Lehre von der Kunst – erst dann auf eine feste Grundlage gestellt werden, als die richtige<br />

Lehre vom „Leben“ aufkam. Die Philosophie Feuerbachs enthielt nur einige Ansätze einer<br />

solchen Lehre. Deshalb entbehrte auch die darauf gegründete Lehre von der Kunst der festen<br />

wissenschaftlichen Grundlage.<br />

Das sind die allgemeinen Bemerkungen, die wir über die ästhetische Theorie Tschernyschewskis<br />

machen wollten. Was Einzelheiten betrifft, so wollen wir hier nur folgendes vermerken.<br />

In der russischen Literatur hat man mehr als einmal an dem von uns oben angeführten Vergleich<br />

Anstoß genommen, nach welchem die Kunst sich zum Leben wie die Gravüre zum<br />

Bild verhält und den Tschernyschewski zur Erläuterung jenes Gedankens heranzieht, daß die<br />

Menschen die Schöpfungen in der Kunst nicht deshalb schätzen, weil das Schöne in der<br />

Wirklichkeit sie nicht befriedigt, sondern weil es ihnen aus diesem oder jenem Grunde nicht<br />

zugänglich ist. Dieser Gedanke ist bei weitem nicht so unbegründet, wie die Kritiker<br />

Tschernyschewskis meinen. In der Malerei lassen sich eine Menge solcher Schöpfungen der<br />

Kunst zeigen, deren Zweck darin besteht, den Menschen die Möglichkeit zu geben. sich, sei<br />

es auch nur durch eine Photoaufnahme, an der für sie reizvollen Wirklichkeit zu ergötzen.<br />

Tschernyschewski wies auf Bilder hin, welche Meereslandschaften darstellen. Und er hatte in<br />

erheblichem Grade recht. Viele solcher Bilder verdanken ihre Existenz dem Umstand, daß die<br />

Menschen, zum Beispiel die Holländer, das Meer lieben und sich an dem Anblick des Meeres<br />

auch dann erfreuen wollen, wenn es weit von ihnen entfernt ist. Etwas Ähnliches sehen wir<br />

auch in der Schweiz. Die Schweizer lieben ihre Berge, aber auch sie können sich nicht ständig<br />

an dem wirklichen Anblick der Alpen erfreuen; die übergroße Mehrzahl der Bevölkerung<br />

dieses Landes lebt in den Tälern und im Alpenvorland; deshalb gibt es dort viele Maler –<br />

Lugardon und andere –‚ welche diese Ansichten reproduzieren. Weder das Publikum noch<br />

die Maler selbst kommen dabei auf den Gedanken, diese Kunstwerke seien schöner als die<br />

Wirklichkeit. Aber sie erinnern an sie, und das genügt, damit sie gefallen, damit man sie<br />

schätze. Wir sehen also unbestreitbare Tatsachen, die klar zugunsten Tschernyschewskis<br />

sprechen. Es gibt aber auch andere Tatsachen, Tatsachen, die gegen ihn sprechen, und bei<br />

diesen müssen wir verweilen.<br />

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