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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

fangen hat, entsprechend seiner eigenen Klassenlage zu denken. Hat er irgendwelche Beziehung<br />

zum künstlerischen Schaffen, so wird er wünschen, die herr-[489]schenden Ansichten<br />

über die Kunst zu reformieren – und zur Zeit obwalten für gewöhnlich die Ansichten der höheren<br />

Gesellschaftsklasse –‚ wird er in seiner besonderen, neuen Art „schaffen“. Dann zeigt<br />

sich auch, daß sein künstlerisches Schaffen dank dem Umstand geworden ist, daß ihn das<br />

Schöne, das er in der Wirklichkeit angetroffen hat, nicht befriedigte. Man kann natürlich sagen,<br />

sein Schaffen werde nur das Leben, nur die Wirklichkeit reproduzieren, die den Begriffen<br />

seiner eigenen Klasse nach schön ist. Herrschend ist aber doch nicht dieses Leben und<br />

diese Wirklichkeit, sondern gerade das Leben und die Wirklichkeit, die sich die höhere Gesellschaftsklasse<br />

geschaffen hat und die sich in den herrschenden Ansichten über die Kunst<br />

widerspiegeln. Das heißt: hat Tschernyschewski recht, dann ist auch die von ihm abgelehnte<br />

idealistische Schule nicht ganz im Unrecht. Nehmen wir ein Beispiel. In der französischen<br />

Gesellschaft zur Zeit Ludwigs XV. herrschten ganz bestimmte Anschauungen über das Leben,<br />

wie es sein soll, die in den verschiedenen Arten künstlerischen Schaffens ihren Ausdruck<br />

fanden. Diese Anschauungen waren Anschauungen einer dem Verfall zustrebenden<br />

Aristokratie. Nicht geteilt wurden diese Anschauungen von den geistigen Vertretern des Mittelstandes,<br />

der nach seiner Emanzipation strebte; im Gegenteil, diese Vertreter unterzogen sie<br />

einer scharfen, schonungslosen Kritik. Und wenn diese Vertreter selbst künstlerisch zu schaffen<br />

begannen und ihre eigenen Kunstrichtungen schufen, so deshalb, weil sie das Schöne<br />

nicht befriedigte, das in jener Wirklichkeit anzutreffen war, welche die höhere Gesellschaftsklasse<br />

geschaffen hatte, vertrat und verteidigte. Hier hat sich die Sache also ohne Zweifel so<br />

zugetragen, wie es die idealistischen Ästhetiker in ihren Theorien dargestellt haben. Ja, mehr<br />

noch, es konnte sogar vorkommen, daß Künstler, die dieser höheren Gesellschaftsklasse<br />

selbst angehörten, nicht befriedigt wurden von dem Schönen, das sie in der Wirklichkeit antrafen;<br />

denn das Leben bleibt nicht immer am selben Fleck, es entwickelt sich, und seine<br />

Entwicklung ruft ein Mißverhältnis zwischen dem, was ist, und dem, was nach Ansicht der<br />

Menschen sein soll, hervor. Das heißt also, die idealistischen Ästhetiker haben sich in dieser<br />

Hinsicht durchaus nicht getäuscht. Ihr Irrtum bestand in etwas ganz anderem. Ihnen galt das<br />

Schöne als Ausdruck der absoluten Idee, auf deren Entwicklung sich, nach ihren Ansichten,<br />

der ganze Weltprozeß und folglich auch der ganze gesellschaftliche Prozeß gründete. Als sich<br />

Feuerbach gegen den Idealismus wandte, hatte er völlig recht. Genauso ist seinem Schüler<br />

Tschernyschewski, als er sich gegen die idealistische Lehre von der Kunst wandte, durchaus<br />

kein Irrtum unterlaufen. Er hat etwas völlig Wahres behauptet: daß nämlich das Schöne das<br />

Leben ist, „wie es sein soll“, und daß sich die Kunst überhaupt mit der Wiedergabe des<br />

„schönen [490] Lebens“ befaßt. Sein Fehler war der, nicht genügend klargemacht zu haben,<br />

wie sich die menschlichen Vorstellungen über das „Leben“ in der Geschichte entwickeln.<br />

„Die von uns angenommene Betrachtungsweise der Kunst“, sagte er, „entspringt den Anschauungen<br />

der neuesten deutschen Ästhetiker und geht aus ihnen durch einen dialektischen<br />

Prozeß hervor, dessen Richtung durch die allgemeinen Ideen der modernen Wissenschaft<br />

bestimmt wird.“ 1 Das ist richtig. Aber in den ästhetischen Ansichten Tschernyschewskis war<br />

jene richtige Anschauung über die Kunst nur im Keime vorhanden, und nachdem sie die dialektische<br />

Methode der alten Philosophie sich angeeignet und vervollkommnet hat, hat sie<br />

zugleich ihre metaphysische Grundlage negiert und an das konkrete gesellschaftliche Leben<br />

appelliert, nicht aber an die abstrakte absolute Idee. Tschernyschewski hat nicht verstanden,<br />

einen festen dialektischen Standpunkt einzunehmen; deshalb sind in seine Vorstellungen vom<br />

Leben und von der Kunst in sehr beträchtlichem Maße metaphysische Elemente eingedrungen.<br />

Er hat die menschlichen Bedürfnisse in natürliche und künstliche eingeteilt; dementsprechend<br />

stellte sich ihm auch das „Leben“ teils als normal dar – insofern es den natürlichen<br />

1 [Ebenda, S. 475.]<br />

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