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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

schockiert und bereit, alle Vorzüge, alle Schönheiten zu vergessen: verdienen sie denn überhaupt,<br />

daß man sie schätze, wo sie doch ohne jede Anstrengung geworden sind! –Findet sich<br />

der gleiche Mangel in einem Kunstwerk, doch hundertmal schwerer, gröber und mit Hunderten<br />

anderer Mängel umgeben – schon sehen wir all das nicht und, wenn wir es sehen, haben<br />

wir eine Entschuldigung bereit und rufen aus: Auch die Sonne hat Flecken! ... Tschernyschewski<br />

ist der Ansicht, man tue sehr gut daran, die Schwierigkeit eines Werkes zu schätzen.<br />

Aber er fordert Gerechtigkeit. „... aber auch der wesentliche innere Wert darf nicht vergessen<br />

werden, der vom Grad der Mühe unabhängig ist; wir werden entschieden ungerecht,<br />

wenn wir die Schwierigkeit der Ausführung dem Wert des Werkes vorziehen.“ 1 Um zu beweisen,<br />

wie hoch die Schwierigkeiten der Ausführung geschätzt werden und [482] wieviel in<br />

den Augen der Menschen das einbüßt, was von selbst wird, weist Tschernyschewski auf die<br />

Daguerreotypbildnisse hin: „... es gibt unter ihnen viele, die nicht nur getreu sind, sondern<br />

auch den Gesichtsausdruck vollendet wiedergeben – wissen wir sie zu schätzen? Es wäre<br />

geradezu sonderbar, wollte uns jemand eine Apologie der Daguerreotypporträts vorsetzen.“ 2<br />

Eine weitere Quelle unserer Sympathie für Kunstwerke ist der Umstand, daß sie eben ein<br />

Werk von Menschenhand sind. Sie zeugen von den menschlichen Fähigkeiten, und deshalb<br />

schätzen wir sie so hoch. „Alle Völker, mit Ausnahme der Franzosen, sehen sehr wohl, daß<br />

zwischen Corneille oder Racine und Shakespeare ein unermeßlicher Abstand liegt; die Franzosen<br />

jedoch vergleichen sie bis heute noch miteinander – es ist schwer, sich bewußt zu machen:<br />

‚das Unsere ist nicht ganz auf der Höhe‘; es gibt unter uns sehr viele Menschen, die<br />

bereit sind zu behaupten, daß Puschkin ein Dichter von Weltrang ist; es gibt sogar Menschen,<br />

die ihn über Byron stellen: so hoch schätzt der Mensch das Seine. Wie ein Volk den Wert<br />

seiner Dichtung überschätzt, so überschätzt der Mensch im allgemeinen den Wert der Dichtung<br />

im allgemeinen.“ 3<br />

Der dritte Grund unserer Vorliebe für die Kunst besteht darin, daß die Kunst unseren gekünstelten<br />

Neigungen schmeichelt. Wir verstehen, wie gekünstelt die Sitten, Gewohnheiten und<br />

die ganze Denkweise der Menschen des 17. Jahrhunderts waren: wir stehen jetzt der Natur<br />

näher, wir verstehen und schätzen sie besser, aber wir sind alle noch recht weit von ihr entfernt<br />

und kranken alle an Unnatürlichkeit. Bei uns ist alles gekünstelt, angefangen von unserer<br />

Kleidung bis hin zu unseren Speisen, die mit allen möglichen Beigaben zubereitet werden,<br />

die den natürlichen Geschmack der Speise völlig verändern. Kunstwerke schmeicheln unserer<br />

Liebe zum Gekünstelten, und deshalb ziehen wir sie den Schöpfungen der Natur vor.<br />

Die ersten zwei Ursachen unserer Vorliebe für Kunstwerke verdienen, nach den Worten<br />

Tschernyschewskis, Achtung, weil es natürliche Ursachen sind: „wie sollte der Mensch nicht<br />

die menschliche Arbeit achten, wie sollte der Mensch nicht den Menschen lieben, nicht Werke<br />

schätzen, die vom Verstand und der Stärke des Menschen zeugen?“ 4 Was aber die dritte<br />

Ursache betrifft, so nimmt er dazu tadelnd Stellung; er entrüstet sich darüber, daß die Kunstwerke<br />

kleinlichem Begehr schmeicheln, das der Liebe zum Gekünstelten entstammt.<br />

Tschernyschewski will nicht bei der Frage darüber verweilen, bis zu welchem Grade wir bis<br />

zum heutigen Tage immer noch lieben, die Natur „reinzuwaschen“; nach seinen Worten<br />

[483] müßte er sich dazu in zu lange Erörterungen darüber einlassen, was das „Schmutzige“<br />

und inwieweit es in den Kunstwerken zulässig ist. „Aber bis heute ist in den Kunstwerken<br />

eine kleinliche Ausfeilung der Details vorherrschend, deren Ziel nicht ist, die Details in Harmonie<br />

mit dem Geist des Ganzen zu bringen, sondern nur, jedes von ihnen im einzelnen in-<br />

1 [Ebenda, S. 460.]<br />

2 [Ebenda, S. 461.]<br />

3 [Ebenda, S. 461/462.]<br />

4 [Ebenda, S. 462.]<br />

24

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