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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

sprechen? Offenbar nur von der psychologischen Notwendigkeit. Was verstehen wir unter<br />

diesen Worten? Daß sich die Gedanken, Gefühle und Handlungen einer gegebenen Person –<br />

in unserem Falle des gegebenen Helden des Dramas – mit Notwendigkeit aus seinem Charakter<br />

und seiner Lage ergeben. Kann man aber sagen, daß diese Notwendigkeit in den Dramen<br />

Shakespeares nicht gegeben sei? Durchaus nicht. Ganz im Gegenteil. Sie bildet den grundlegenden<br />

Charakterzug der dramatischen Werke Shakespeares. Wie soll man die Worte<br />

Tschernyschewskis aber verstehen? Es scheint, man kann sie nur in dem Sinne verstehen, daß<br />

er all das Übel und all die menschlichen Leiden, die bei Shakespeare ihren Ausdruck finden,<br />

nicht für unvermeidlich, nicht für notwendig erklären will. Der gesellschaftliche Standpunkt<br />

Tschernyschewskis war sozusagen der Standpunkt eines bedingten Optimismus. Er war der<br />

Ansicht, die Menschen werden sehr [479] glücklich sein, wenn sie nur ihre gesellschaftlichen<br />

Beziehungen richtig organisieren. Das ist ein völlig verständlicher, sehr achtenswerter und –<br />

unter gewissen psychologischen Bedingungen – völlig unvermeidlicher Optimismus. Aber<br />

speziell zur Frage des Tragischen hat er keine unmittelbare Beziehung. Shakespeare hatte<br />

nicht darzustellen, was hätte sein können, sondern was war; er nahm die psychologische Natur<br />

des Menschen nicht in der Form, die sie in der Zukunft annehmen wird, sondern in der<br />

Form, wie sie ihm auf Grund seiner Beobachtungen an den zu seiner Zeit lebenden Menschen<br />

bekannt war. Und diese psychologische Natur seiner Zeitgenossen war keine zufällige, sondern<br />

eine notwendige Erscheinung. Ja, und was ist Zufälligkeit anderes als die unserer Aufmerksamkeit<br />

entgehende Notwendigkeit? Sicherlich dürfen wir uns die Notwendigkeit nicht<br />

in der Form des griechischen Schicksals vorstellen. Man kann sie sich ganz anders denken. In<br />

unserer Zeit wird kaum jemand zum Beispiel den Untergang der Gracchen dem Willen des<br />

„Daimon“‚ der Macht des „Schicksals“ usw. zuschreiben. Jeder oder fast jeder wird zugeben,<br />

daß er durch den Gang der Entwicklung des römischen gesellschaftlichen Lebens vorbereitet<br />

war. War aber dieser Gang der Entwicklung notwendig, so ist klar, daß auch die berühmten<br />

Volkstribunen infolge der „notwendigen Verkettung der Umstände“ zugrunde gingen. Damit<br />

will nun nicht gesagt sein, daß wir uns zum Untergang solcher Menschen gleichgültig verhalten<br />

sollen. Wir können ihnen von ganzem Herzen den Sieg wünschen. Das hindert uns nicht,<br />

zu verstehen, daß ihr Sieg unter diesen oder jenen gesellschaftlichen Bedingungen möglich<br />

ist, unmöglich aber beim Fehlen dieser Bedingungen. Überhaupt hält die Gegenüberstellung<br />

des Wünschenswerten und des Notwendigen der Kritik nicht stand und ist nur ein Spezialfall<br />

jenes Dualismus – der unter anderem auch von Feuerbach, dem Lehrer Tschernyschewskis,<br />

verurteilt wurde –‚ jenes Dualismus, der den Zusammenhang zwischen Subjekt und Objekt<br />

zerreißt. Jede monistische Philosophie – und die Philosophie Tschernyschewskis hat sich<br />

nicht ohne Grund zu einer solchen erklärt – muß danach streben, das Wünschenswerte für<br />

notwendig zu erklären, die Entstehung bestimmter Wünsche bei einem bestimmten gesellschaftlichen<br />

Menschen als einen gesetzmäßigen und darum notwendigen Prozeß zu verstehen.<br />

Tschernyschewski – und auch Feuerbach selbst – hat diese Verpflichtung für seine Philosophie<br />

anerkannt, insofern sich die von uns angegebene Aufgabe ihm in ihrer allgemeinen<br />

abstrakten Formulierung darstellte. Aber weder Feuerbach noch Tschernyschewski haben<br />

verstanden, daß sich diese Aufgabe unvermeidlich jedem stellt, der die menschliche Geschichte<br />

im allgemeinen und die Geschichte der Ideologie im besonderen verstehen will.<br />

Daraus erklärt sich auch das Unbefriedigende der in der Dissertation [480] Tschernyschewskis<br />

dargelegten Ansicht über das Tragische. Hegel, der das Schicksal des Sokrates als<br />

dramatische Episode der Geschichte der inneren Entwicklung der athenischen Gesellschaft<br />

betrachtete, ist tiefer in das Verständnis des Tragischen eingedrungen als Tschernyschewski,<br />

dem sich dieses Schicksal, wie es scheint, ganz einfach als eine schreckliche Zufälligkeit darstellte.<br />

Man könnte Tschernyschewski nur dann mit Hegel messen, wenn er, wie der große<br />

deutsche Idealist, den Standpunkt der Entwicklung eingenommen hätte, den man in seiner<br />

Dissertation leider fast gänzlich vermißt. Die schwache Seite der Ansicht Hegels über das<br />

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