erschien nennen menschenähnlichen
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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013 den Philosophen erdacht, „konstruiert“. Das blieb natürlich Tschernyschewski nicht verborgen, der ganz richtig gesagt hat, daß der Gedanke, der in jedem, der zugrunde gehen muß, einen Schuldigen sieht, ein erzwungener und grausamer Gedanke ist. Er ist nach seinen Worten aus der Schicksalsidee des alten Griechenlands herausgewachsen. Aber: „Jeder gebildete Mensch begreift, wie lächerlich es ist, die Welt mit den Augen anzusehen, mit denen die Griechen der Zeiten Herodots sie betrachtet haben; jedermann begreift heute sehr gut, daß im Leiden und im Untergang großer Männer durchaus nichts Notwendiges liegt, daß nicht jeder zugrunde gehende Mensch an seinen eigenen Verbrechen zugrunde geht; daß nicht jeder Verbrecher zugrunde geht; daß nicht jedes Verbrechen vom Gericht der öffentlichen Meinung bestraft wird usw. Deshalb muß man ganz entschieden sagen, daß das Tragische in uns nicht immer die Idee der Notwendigkeit erweckt und daß seine Wirkung auf den Menschen durchaus nicht auf der Idee der Notwendigkeit beruht und daß nicht in ihr sein Wesen liegt.“ 1 Wie faßt nun Tschernyschewski das Tragische auf? Nach all dem Gesagten können wir unschwer voraussehen, welche Ansicht vom Tragischen wir in den „Ästhetischen Beziehungen“ finden werden. Tschernyschewski sagt: „Das Tragische ist das Leiden oder der Untergang eines Menschen – das genügt vollkommen, um uns mit Schrecken und Mitleid zu erfüllen, auch wenn in diesem Leiden, in diesem Untergang gar keine ‚unendlich gewaltige und unabwendbare Macht‘ zur Geltung kommt. Mag ein Zufall oder mag eine Notwendigkeit die Ursache des Leidens und des Untergangs eines Menschen sein – Leiden und Untergang sind in jedem Fall furchtbar. Man sagt uns: ‚Ein rein zufälliger Untergang ist ein Unding in der Tragödie‘ – ja, vielleicht in den Tragödien, die von Autoren geschrieben werden; im wirklichen Leben jedoch nicht. In der Dichtung hält es der Autor für seine unbedingte Pflicht, ‚die Lösung aus der Schürzung selbst abzuleiten‘; im Leben ist die Lösung häufig völlig zufällig, und das tragische Geschick kann durchaus zufällig sein, ohne daß es dadurch aufhört, tragisch zu sein. Wir sind einverstan-[478]den, daß das Geschick des Macbeth und der Lady Macbeth, das sich mit Notwendigkeit aus ihrer Stellung und aus ihren Handlungen ergibt, tragisch ist. Aber ist etwa das Geschick Gustav Adolfs, der in der Schlacht bei Lützen auf dem Wege zum Triumph und Sieg völlig zufällig ums Leben kam, nicht tragisch?“ 2 Schließlich bestimmt Tschernyschewski das Tragische als das Furchtbare im menschlichen Leben. Er ist der Ansicht, daß das die volle Definition des Tragischen ist. „Es ist richtig“, fügt er hinzu, „daß die Mehrzahl der Kunstwerke uns das Recht gibt, hinzuzufügen: ‚das Furchtbare, das den Menschen mehr oder weniger unvermeidlich ereilt‘; aber erstens ist es zweifelhaft, bis zu welchem Grade die Kunst richtig verfährt, wenn sie dieses Furchtbare fast immer als unvermeidlich hinstellt, während es in der Wirklichkeit selbst größtenteils durchaus nicht unvermeidlich, sondern rein zufällig ist; zweitens scheint es, daß wir sehr oft nur aus der Gewohnheit heraus, in jedem großen Kunstwerk eine ‚notwendige Verkettung der Umstände‘, eine ‚notwendige Entwicklung der Handlung selbst‘ aufzusuchen, mit Not und Mühe eine ‚Notwendigkeit im Gange der Ereignisse‘ auch dort entdecken, wo sie gar nicht vorhanden ist, zum Beispiel in der Mehrzahl der Tragödien Shakespeares.“ 3 So wird als das Tragische das Schreckliche im Leben des Menschen bezeichnet, und es wäre falsch, dieses Schreckliche für ein Resultat der „Notwendigkeit im Gange der Ereignisse“ zu halten. Das ist der Gedanke Tschernyschewskis. Ist er richtig? Bevor man diese Frage beantwortet, ist es nützlich, sich zu fragen: Weshalb glaubt unser Autor, daß die Notwendigkeit in einem großen Teil der „Tragödien“ Shakespeares nicht vorhanden sei? Und von welcher Notwendigkeit kann man hier 1 [N. G. Tschernyschewski, Ausgewählte philosophische Schriften, S. 400.] 2 [Ebenda, S. 400/401.] 3 [Ebenda, S. 401.] 21
OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013 sprechen? Offenbar nur von der psychologischen Notwendigkeit. Was verstehen wir unter diesen Worten? Daß sich die Gedanken, Gefühle und Handlungen einer gegebenen Person – in unserem Falle des gegebenen Helden des Dramas – mit Notwendigkeit aus seinem Charakter und seiner Lage ergeben. Kann man aber sagen, daß diese Notwendigkeit in den Dramen Shakespeares nicht gegeben sei? Durchaus nicht. Ganz im Gegenteil. Sie bildet den grundlegenden Charakterzug der dramatischen Werke Shakespeares. Wie soll man die Worte Tschernyschewskis aber verstehen? Es scheint, man kann sie nur in dem Sinne verstehen, daß er all das Übel und all die menschlichen Leiden, die bei Shakespeare ihren Ausdruck finden, nicht für unvermeidlich, nicht für notwendig erklären will. Der gesellschaftliche Standpunkt Tschernyschewskis war sozusagen der Standpunkt eines bedingten Optimismus. Er war der Ansicht, die Menschen werden sehr [479] glücklich sein, wenn sie nur ihre gesellschaftlichen Beziehungen richtig organisieren. Das ist ein völlig verständlicher, sehr achtenswerter und – unter gewissen psychologischen Bedingungen – völlig unvermeidlicher Optimismus. Aber speziell zur Frage des Tragischen hat er keine unmittelbare Beziehung. Shakespeare hatte nicht darzustellen, was hätte sein können, sondern was war; er nahm die psychologische Natur des Menschen nicht in der Form, die sie in der Zukunft annehmen wird, sondern in der Form, wie sie ihm auf Grund seiner Beobachtungen an den zu seiner Zeit lebenden Menschen bekannt war. Und diese psychologische Natur seiner Zeitgenossen war keine zufällige, sondern eine notwendige Erscheinung. Ja, und was ist Zufälligkeit anderes als die unserer Aufmerksamkeit entgehende Notwendigkeit? Sicherlich dürfen wir uns die Notwendigkeit nicht in der Form des griechischen Schicksals vorstellen. Man kann sie sich ganz anders denken. In unserer Zeit wird kaum jemand zum Beispiel den Untergang der Gracchen dem Willen des „Daimon“‚ der Macht des „Schicksals“ usw. zuschreiben. Jeder oder fast jeder wird zugeben, daß er durch den Gang der Entwicklung des römischen gesellschaftlichen Lebens vorbereitet war. War aber dieser Gang der Entwicklung notwendig, so ist klar, daß auch die berühmten Volkstribunen infolge der „notwendigen Verkettung der Umstände“ zugrunde gingen. Damit will nun nicht gesagt sein, daß wir uns zum Untergang solcher Menschen gleichgültig verhalten sollen. Wir können ihnen von ganzem Herzen den Sieg wünschen. Das hindert uns nicht, zu verstehen, daß ihr Sieg unter diesen oder jenen gesellschaftlichen Bedingungen möglich ist, unmöglich aber beim Fehlen dieser Bedingungen. Überhaupt hält die Gegenüberstellung des Wünschenswerten und des Notwendigen der Kritik nicht stand und ist nur ein Spezialfall jenes Dualismus – der unter anderem auch von Feuerbach, dem Lehrer Tschernyschewskis, verurteilt wurde –‚ jenes Dualismus, der den Zusammenhang zwischen Subjekt und Objekt zerreißt. Jede monistische Philosophie – und die Philosophie Tschernyschewskis hat sich nicht ohne Grund zu einer solchen erklärt – muß danach streben, das Wünschenswerte für notwendig zu erklären, die Entstehung bestimmter Wünsche bei einem bestimmten gesellschaftlichen Menschen als einen gesetzmäßigen und darum notwendigen Prozeß zu verstehen. Tschernyschewski – und auch Feuerbach selbst – hat diese Verpflichtung für seine Philosophie anerkannt, insofern sich die von uns angegebene Aufgabe ihm in ihrer allgemeinen abstrakten Formulierung darstellte. Aber weder Feuerbach noch Tschernyschewski haben verstanden, daß sich diese Aufgabe unvermeidlich jedem stellt, der die menschliche Geschichte im allgemeinen und die Geschichte der Ideologie im besonderen verstehen will. Daraus erklärt sich auch das Unbefriedigende der in der Dissertation [480] Tschernyschewskis dargelegten Ansicht über das Tragische. Hegel, der das Schicksal des Sokrates als dramatische Episode der Geschichte der inneren Entwicklung der athenischen Gesellschaft betrachtete, ist tiefer in das Verständnis des Tragischen eingedrungen als Tschernyschewski, dem sich dieses Schicksal, wie es scheint, ganz einfach als eine schreckliche Zufälligkeit darstellte. Man könnte Tschernyschewski nur dann mit Hegel messen, wenn er, wie der große deutsche Idealist, den Standpunkt der Entwicklung eingenommen hätte, den man in seiner Dissertation leider fast gänzlich vermißt. Die schwache Seite der Ansicht Hegels über das 22
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den Philosophen erdacht, „konstruiert“. Das blieb natürlich Tschernyschewski nicht verborgen,<br />
der ganz richtig gesagt hat, daß der Gedanke, der in jedem, der zugrunde gehen muß, einen<br />
Schuldigen sieht, ein erzwungener und grausamer Gedanke ist. Er ist nach seinen Worten aus<br />
der Schicksalsidee des alten Griechenlands herausgewachsen. Aber: „Jeder gebildete Mensch<br />
begreift, wie lächerlich es ist, die Welt mit den Augen anzusehen, mit denen die Griechen der<br />
Zeiten Herodots sie betrachtet haben; jedermann begreift heute sehr gut, daß im Leiden und im<br />
Untergang großer Männer durchaus nichts Notwendiges liegt, daß nicht jeder zugrunde gehende<br />
Mensch an seinen eigenen Verbrechen zugrunde geht; daß nicht jeder Verbrecher zugrunde<br />
geht; daß nicht jedes Verbrechen vom Gericht der öffentlichen Meinung bestraft wird usw.<br />
Deshalb muß man ganz entschieden sagen, daß das Tragische in uns nicht immer die Idee der<br />
Notwendigkeit erweckt und daß seine Wirkung auf den Menschen durchaus nicht auf der Idee<br />
der Notwendigkeit beruht und daß nicht in ihr sein Wesen liegt.“ 1<br />
Wie faßt nun Tschernyschewski das Tragische auf?<br />
Nach all dem Gesagten können wir unschwer voraussehen, welche Ansicht vom Tragischen<br />
wir in den „Ästhetischen Beziehungen“ finden werden. Tschernyschewski sagt: „Das Tragische<br />
ist das Leiden oder der Untergang eines Menschen – das genügt vollkommen, um uns<br />
mit Schrecken und Mitleid zu erfüllen, auch wenn in diesem Leiden, in diesem Untergang gar<br />
keine ‚unendlich gewaltige und unabwendbare Macht‘ zur Geltung kommt. Mag ein Zufall<br />
oder mag eine Notwendigkeit die Ursache des Leidens und des Untergangs eines Menschen<br />
sein – Leiden und Untergang sind in jedem Fall furchtbar. Man sagt uns: ‚Ein rein zufälliger<br />
Untergang ist ein Unding in der Tragödie‘ – ja, vielleicht in den Tragödien, die von Autoren<br />
geschrieben werden; im wirklichen Leben jedoch nicht. In der Dichtung hält es der Autor für<br />
seine unbedingte Pflicht, ‚die Lösung aus der Schürzung selbst abzuleiten‘; im Leben ist die<br />
Lösung häufig völlig zufällig, und das tragische Geschick kann durchaus zufällig sein, ohne<br />
daß es dadurch aufhört, tragisch zu sein. Wir sind einverstan-[478]den, daß das Geschick des<br />
Macbeth und der Lady Macbeth, das sich mit Notwendigkeit aus ihrer Stellung und aus ihren<br />
Handlungen ergibt, tragisch ist. Aber ist etwa das Geschick Gustav Adolfs, der in der<br />
Schlacht bei Lützen auf dem Wege zum Triumph und Sieg völlig zufällig ums Leben kam,<br />
nicht tragisch?“ 2<br />
Schließlich bestimmt Tschernyschewski das Tragische als das Furchtbare im menschlichen<br />
Leben. Er ist der Ansicht, daß das die volle Definition des Tragischen ist. „Es ist richtig“, fügt<br />
er hinzu, „daß die Mehrzahl der Kunstwerke uns das Recht gibt, hinzuzufügen: ‚das Furchtbare,<br />
das den Menschen mehr oder weniger unvermeidlich ereilt‘; aber erstens ist es zweifelhaft,<br />
bis zu welchem Grade die Kunst richtig verfährt, wenn sie dieses Furchtbare fast immer<br />
als unvermeidlich hinstellt, während es in der Wirklichkeit selbst größtenteils durchaus nicht<br />
unvermeidlich, sondern rein zufällig ist; zweitens scheint es, daß wir sehr oft nur aus der Gewohnheit<br />
heraus, in jedem großen Kunstwerk eine ‚notwendige Verkettung der Umstände‘,<br />
eine ‚notwendige Entwicklung der Handlung selbst‘ aufzusuchen, mit Not und Mühe eine<br />
‚Notwendigkeit im Gange der Ereignisse‘ auch dort entdecken, wo sie gar nicht vorhanden<br />
ist, zum Beispiel in der Mehrzahl der Tragödien Shakespeares.“ 3 So wird als das Tragische<br />
das Schreckliche im Leben des Menschen bezeichnet, und es wäre falsch, dieses Schreckliche<br />
für ein Resultat der „Notwendigkeit im Gange der Ereignisse“ zu halten. Das ist der Gedanke<br />
Tschernyschewskis. Ist er richtig? Bevor man diese Frage beantwortet, ist es nützlich, sich zu<br />
fragen: Weshalb glaubt unser Autor, daß die Notwendigkeit in einem großen Teil der „Tragödien“<br />
Shakespeares nicht vorhanden sei? Und von welcher Notwendigkeit kann man hier<br />
1 [N. G. Tschernyschewski, Ausgewählte philosophische Schriften, S. 400.]<br />
2 [Ebenda, S. 400/401.]<br />
3 [Ebenda, S. 401.]<br />
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