erschien nennen menschenähnlichen
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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013 ken der Kunst mehr Absicht als in den Schöpfungen der Natur. „Aber wenn die Kunst auf der einen Seite durch das Gewolltsein gewinnt, verliert sie durch das gleiche auf der anderen Seite; die Sache ist die, daß der Künstler, wenn er etwas Schönes ersinnt, sehr häufig durchaus nichts Schönes ersonnen hat: es genügt nicht, das Schöne zu wollen, man muß es auch in seiner wahren Schönheit erfassen können, – wie oft aber irren sich die Künstler in ihrer Auffassung vom Schönen! wie oft täuscht sie sogar der künstlerische Instinkt, nicht nur die größtenteils einseitigen reflektiven Begriffe! Alle Mängel der Individualität sind in der Kunst untrennbar verbunden mit dem Gewolltsein.“ 1 Es wird auch gesagt, daß das Schöne in der Wirklichkeit selten vorkomme. Tschernyschewski ist damit nicht einverstanden. Wie er sagt, kommt in der Wirklichkeit durchaus nicht so wenig Schönes vor, wie die deutschen Ästhetiker behaupten. Es gibt zum Beispiel in der Natur sehr viele schöne und großartige Landschaften, und es gibt Länder, wo man ihnen auf Schritt und Tritt begegnet; solche Länder sind die Schweiz, Italien, auch Finnland, die Krim, die Ufer des Dnjepr und der Wolga. Im Leben des Menschen kommt Großartiges verhältnismäßig selten vor. Aber es hat stets viele Menschen gegeben, deren ganzes Leben eine ununterbrochene Aufeinanderfolge erhabener Gefühle und Werke war. Wir dürfen uns auch nicht über die Seltenheit schöner Minuten unseres Lebens beklagen, denn auf uns selbst kommt es an, ob wir es mit Großem und Schönem erfüllen. „Leer und farblos ist das Leben nur für farblose Menschen, die von Gefühlen und Bedürfnissen daherreden, in Wirklichkeit aber gar nicht fähig sind, irgendwelche besonderen Gefühle und Bedürfnisse zu haben, außer dem Bedürfnis, sich aufzuspielen.“ 2 Schließlich ist die Schönheit, namentlich die sogenannte weibliche Schönheit, durchaus keine seltene Erscheinung; „es gibt durchaus nicht weniger von Angesicht schöne als gute, kluge u. dgl. Menschen“ 3 . Jedenfalls kommt das Schöne in der Wirk-[472]lichkeit häufiger vor als in der Kunst. Im Leben ereignen sich eine große Menge wahrhaft dramatischer Geschehnisse, aber wirklich schöne Tragödien oder Dramen gibt es nur wenige: höchstens einige Dutzend in der ganzen westeuropäischen Literatur; in Rußland im ganzen zwei: „Boris Godunow“ und „Szenen aus der Ritterzeit“. Schönen Landschaften begegnet man in der Natur häufiger als in der Malerei. Werke der Bildhauerei, Statuen, bleiben hinter lebenden Gestalten weit zurück. „Es ist zu einer Art Axiom geworden“, sagt unser Autor, „daß die Schönheit der Züge der Venus von Medici oder von Milo, des Apollo von Belvedere usw. die Schönheit lebender Menschen bei weitem übertreffe. In Petersburg gibt es weder die Venus von Medici noch den Apollo von Belvedere; aber es gibt Werke von Canova; deshalb können wir Einwohner von Petersburg so kühn sein, die Schönheit von Schöpfungen der Bildhauerei bis zu einem gewissen Grade zu beurteilen. Wir müssen sagen, daß es in Petersburg keine einzige Statue gibt, die an Schönheit der Gesichtszüge nicht hinter einer Unzahl lebender Menschen zurückbliebe, und daß man bloß durch eine belebte Straße zu gehen braucht, um einigen solcher Gesichter zu begegnen.“ 4 Tschernyschewski glaubt, daß die Mehrzahl aller selbständig urteilenden Menschen darüber mit ihm einer Meinung sei. Indes, er hält den eigenen Eindruck nicht für einen Beweis; er führt einen anderen – „stichhaltigeren“ an. In der Kunst bleibt die Ausführung stets unermeßlich weit hinter dem Ideal zurück, wie es in der Phantasie des Künstlers existiert. Und das Ideal des Künstlers kann nicht über jenen Menschen stehen, denen er im Leben begegnete: die schöpferische Phantasie kombiniert nur jene Eindrücke, welche die Wirk- 1 [Ebenda, S. 428.] 2 [Ebenda, S. 414/415.] 3 [Ebenda, S. 415.] 4 [Ebenda, S. 437.] 17
OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013 lichkeit auf uns macht; „die Vorstellung gestaltet den Gegenstand nur um, vergrößert ihn extensiv, aber wir können uns nichts vorstellen, was intensiver wäre, als was wir beobachtet oder erlebt haben“ 1 . Man wird vielleicht sagen, daß die schöpferische Phantasie des Künstlers, indem sie die aus der Erfahrung gewonnenen Eindrücke kombiniert, die Züge, die verschiedenen Gesichtern eigen sind, in einem Gesicht vereinigen könne. Tschernyschewski bezweifelt auch das: Er sagt: „... es ist jedoch zweifelhaft: erstens, ob das nötig ist; zweitens, ob die Einbildung imstande ist, diese Teile zu vereinigen, wenn sie in der Wirklichkeit verschiedenen Personen gehören.“ 2 Der Eklektizismus führt nirgends zu etwas Gutem, und der Künstler, der sich davon anstecken ließe, würde seinen Mangel an Geschmack oder sein Unvermögen zeigen, ein wirklich schönes Gesicht als Modell zu finden. [473] Dazu stehen scheinbar einige allgemein bekannte Tatsachen aus der Geschichte der Kunst in Widerspruch. Wer hätte nicht davon gehört, daß Raffael über den „Mangel“ an Schönheiten in Italien klagte? Tschernyschewski erinnerte sich wohl daran. Nur glaubte er, daß diese Klage durchaus nicht durch den Mangel an Schönheiten in diesem Lande hervorgerufen worden sei. Es ist so, Raffael „suchte nach der schönsten Frau, aber die schönste Frau gibt es natürlich nur einmal in der ganzen Welt“, sagt er, „und wo soll man sie finden? In seiner Art Erstrangiges gibt es stets nur sehr wenig, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: wenn sich viel davon zusammenfindet, werden wir es wieder in Klassen unterteilen und nur das als erstrangig bezeichnen, wovon sich nur zwei, drei Exemplare finden; alles übrige werden wir zweitrangig nennen. Und überhaupt muß man sagen, daß der Gedanke, ‚das Schöne ist in der Wirklichkeit selten anzutreffen‘, auf einer Vermengung der Begriffe ‚ziemlich‘ und ‚das erste‘ beruht; ziemlich majestätische Flüsse gibt es sehr viele, aber der erste unter den majestätischen Flüssen ist natürlich nur einer; große Feldherren gab es viele, der erste Feldherr der Welt war einer von ihnen.“ 3 Was man in seiner Phantasie ersinnt, das bleibt in seiner Schönheit stets weit hinter dem zurück, was die Wirklichkeit zu bieten hat. Darin, daß diese Tatsache anerkannt wird, besteht nach der Meinung Tschernyschewskis „einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der veralteten Weltanschauung, unter deren Einfluß die transzendentalen Wissenschaftssysteme entstanden, und der jetzigen Anschauung über die Natur und das Leben“. VII Die idealistischen Ästhetiker hielten das sogenannte Erhabene für ein „Moment“ des Schönen. Tschernyschewski beweist, daß das Erhabene eine Abart des Schönen ist und daß die Ideen des Erhabenen und des Schönen gänzlich unter sich verschieden sind, daß es zwischen ihnen „weder eine innere Verbundenheit noch eine innere Gegensätzlichkeit gibt“. Er gibt seine eigene Definition des Erhabenen, die, wie er meint, alle in dieses Gebiet fallenden Erscheinungen umfaßt, und erklärt: „Erhaben erscheint dem Menschen das, was bedeutend größer ist als die Gegenstände oder bedeutend stärker als die Erscheinungen, mit denen der Mensch vergleicht.“ 4 Zu seiner Definition des Erhabenen gelangt Tschernyschewski durch [474] folgende Überlegungen: Das herrschende ästhetische System sagt, daß das Erhabene die Offenbarung des Absoluten oder das Übergewicht der Idee über die Form ist. Diese zwei Definitionen sind ihrem Sinne nach jedoch völlig verschieden; denn das Überwiegen der Idee über die Form bringt nicht eigentlich den Begriff des Erhabenen, sondern den Begriff des Verschwomme- 1 [Ebenda, S. 438.] 2 [Ebenda, S. 438.] 3 [Ebenda, S. 415.] 4 [Ebenda, S. 491.] 18
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ken der Kunst mehr Absicht als in den Schöpfungen der Natur. „Aber wenn die Kunst auf der<br />
einen Seite durch das Gewolltsein gewinnt, verliert sie durch das gleiche auf der anderen Seite;<br />
die Sache ist die, daß der Künstler, wenn er etwas Schönes ersinnt, sehr häufig durchaus<br />
nichts Schönes ersonnen hat: es genügt nicht, das Schöne zu wollen, man muß es auch in seiner<br />
wahren Schönheit erfassen können, – wie oft aber irren sich die Künstler in ihrer Auffassung<br />
vom Schönen! wie oft täuscht sie sogar der künstlerische Instinkt, nicht nur die größtenteils<br />
einseitigen reflektiven Begriffe! Alle Mängel der Individualität sind in der Kunst untrennbar<br />
verbunden mit dem Gewolltsein.“ 1<br />
Es wird auch gesagt, daß das Schöne in der Wirklichkeit selten vorkomme. Tschernyschewski<br />
ist damit nicht einverstanden. Wie er sagt, kommt in der Wirklichkeit durchaus<br />
nicht so wenig Schönes vor, wie die deutschen Ästhetiker behaupten. Es gibt zum Beispiel in<br />
der Natur sehr viele schöne und großartige Landschaften, und es gibt Länder, wo man ihnen<br />
auf Schritt und Tritt begegnet; solche Länder sind die Schweiz, Italien, auch Finnland, die<br />
Krim, die Ufer des Dnjepr und der Wolga. Im Leben des Menschen kommt Großartiges verhältnismäßig<br />
selten vor. Aber es hat stets viele Menschen gegeben, deren ganzes Leben eine<br />
ununterbrochene Aufeinanderfolge erhabener Gefühle und Werke war. Wir dürfen uns auch<br />
nicht über die Seltenheit schöner Minuten unseres Lebens beklagen, denn auf uns selbst<br />
kommt es an, ob wir es mit Großem und Schönem erfüllen.<br />
„Leer und farblos ist das Leben nur für farblose Menschen, die von Gefühlen und Bedürfnissen<br />
daherreden, in Wirklichkeit aber gar nicht fähig sind, irgendwelche besonderen Gefühle<br />
und Bedürfnisse zu haben, außer dem Bedürfnis, sich aufzuspielen.“ 2 Schließlich ist die<br />
Schönheit, namentlich die sogenannte weibliche Schönheit, durchaus keine seltene Erscheinung;<br />
„es gibt durchaus nicht weniger von Angesicht schöne als gute, kluge u. dgl. Menschen“<br />
3 . Jedenfalls kommt das Schöne in der Wirk-[472]lichkeit häufiger vor als in der<br />
Kunst. Im Leben ereignen sich eine große Menge wahrhaft dramatischer Geschehnisse, aber<br />
wirklich schöne Tragödien oder Dramen gibt es nur wenige: höchstens einige Dutzend in der<br />
ganzen westeuropäischen Literatur; in Rußland im ganzen zwei: „Boris Godunow“ und „Szenen<br />
aus der Ritterzeit“. Schönen Landschaften begegnet man in der Natur häufiger als in der<br />
Malerei.<br />
Werke der Bildhauerei, Statuen, bleiben hinter lebenden Gestalten weit zurück. „Es ist zu<br />
einer Art Axiom geworden“, sagt unser Autor, „daß die Schönheit der Züge der Venus von<br />
Medici oder von Milo, des Apollo von Belvedere usw. die Schönheit lebender Menschen bei<br />
weitem übertreffe. In Petersburg gibt es weder die Venus von Medici noch den Apollo von<br />
Belvedere; aber es gibt Werke von Canova; deshalb können wir Einwohner von Petersburg so<br />
kühn sein, die Schönheit von Schöpfungen der Bildhauerei bis zu einem gewissen Grade zu<br />
beurteilen. Wir müssen sagen, daß es in Petersburg keine einzige Statue gibt, die an Schönheit<br />
der Gesichtszüge nicht hinter einer Unzahl lebender Menschen zurückbliebe, und daß<br />
man bloß durch eine belebte Straße zu gehen braucht, um einigen solcher Gesichter zu begegnen.“<br />
4 Tschernyschewski glaubt, daß die Mehrzahl aller selbständig urteilenden Menschen<br />
darüber mit ihm einer Meinung sei. Indes, er hält den eigenen Eindruck nicht für einen<br />
Beweis; er führt einen anderen – „stichhaltigeren“ an. In der Kunst bleibt die Ausführung<br />
stets unermeßlich weit hinter dem Ideal zurück, wie es in der Phantasie des Künstlers existiert.<br />
Und das Ideal des Künstlers kann nicht über jenen Menschen stehen, denen er im Leben<br />
begegnete: die schöpferische Phantasie kombiniert nur jene Eindrücke, welche die Wirk-<br />
1 [Ebenda, S. 428.]<br />
2 [Ebenda, S. 414/415.]<br />
3 [Ebenda, S. 415.]<br />
4 [Ebenda, S. 437.]<br />
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