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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

selbst nur ein abstraktes oder phantastisches, kein wirkliches, kein wahrhaft menschliches<br />

Wesen. Die Realität des Menschen hängt nur von der Realität seines Gegenstandes ab.“ 1<br />

Wenn nun das Wesen des Menschen die „Sinnlichkeit“, die Wirklichkeit ist, und nicht die<br />

Einbildung und auch nicht die Abstraktion, so ist jede Erhebung der Einbildung und der Abstraktion<br />

über die Wirklichkeit nicht nur falsch, sondern direkt schädlich. Und wenn die Aufgabe<br />

der Wissenschaft in der Rehabilitierung der Wirklichkeit besteht, so besteht in dieser<br />

Rehabilitierung auch die Aufgabe der Ästhetik als eines einzelnen Wissenszweiges. Diese<br />

Schlußfolgerung, die sich unvermeidlich aus der philosophischen Lehre Feuerbachs ergibt,<br />

bildete voll und ganz die Grundlage aller Erörterungen Tschernyschewskis über die Kunst.<br />

Die idealistischen Ästhetiker haben gesagt, die Kunst entspringe aus dem Streben des Menschen,<br />

das Schöne, wie es in der Wirklichkeit existiere, von den Mängeln zu befreien, die es<br />

hindern, dem Menschen ein Gegenstand voller Befriedigung zu sein. Tschernyschewski behauptet<br />

umgekehrt, daß das Schöne in der Wirklichkeit stets über dem Schönen in der Kunst<br />

stehe. Um diesen Gedanken zu beweisen, untersucht er eingehend alle „Vorwürfe, die gegen<br />

das Schöne in der Wirklichkeit“ von Vischer „erhoben werden“, der damals wohl der angesehenste<br />

Vertreter der idealistischen Ästhetik in Deutschland gewesen ist. Diese Vorwürfe erscheinen<br />

ihm haltlos. Wie er meint, hat das Schöne, wie es in der lebendigen Wirklichkeit<br />

vorkommt, entweder überhaupt nicht jene Mängel, welche die Idealisten sehen wollen, oder<br />

es hat sie nur in schwachem Grade. Dazu sind auch Kunstwerke durchaus nicht frei davon.<br />

Alle Mängel des in der Wirklichkeit existierenden Schönen nehmen in Kunstwerken viel größere<br />

Ausmaße an. Tschernyschewski untersucht jede Kunst im einzelnen und will zeigen, wie<br />

keine einzige es mit der lebendigen Wirklichkeit und der Schönheit ihrer Schöpfungen aufnehmen<br />

kann. Aus der Unmöglichkeit eines solchen Wettstreits zieht er den Schluß, daß die<br />

[469] Kunst nicht aus dem Streben entsprungen sein könne, das Schöne von den Mängeln zu<br />

befreien, die ihm in der Wirklichkeit anhaften und die die Menschen daran hindern sollen,<br />

sich seiner zu erfreuen. Die Kunst verhält sich zur Wirklichkeit wie eine Gravüre zum Gemälde.<br />

Die Gravüre kann nicht schöner sein als das Gemälde, aber das Gemälde geht allein,<br />

die Gravüre in einer großen Zahl von Exemplaren durch die ganze Welt, und Menschen erfreuen<br />

sich daran, denen es vielleicht niemals vergönnt sein wird, das Gemälde zu sehen.<br />

Kunstwerke sind ein Surrogat des Schönen in der Wirklichkeit; sie machen jene mit einer<br />

schönen Erscheinung bekannt, die sie nicht gesehen haben; sie erwecken und beleben die<br />

Erinnerungen bei denen, die das Glück hatten, sie zu sehen.<br />

Die Bestimmung der Kunst besteht in der Reproduktion des Schönen, das in der Wirklichkeit<br />

existiert. Wir wissen jedoch bereits, daß, nach der Meinung Tschernyschewskis, der Kreis der<br />

Kunst viel weiter ist als der Kreis des Schönen im eigentlichen Sinne des Wortes. Es ergibt<br />

sich also die Folgerung, daß die Aufgabe der Kunst in der Reproduktion aller jener Erscheinungen<br />

des wirklichen Lebens besteht, die irgendwie für die Menschen interessant sind. „Unter<br />

‚wirklichem Leben‘“‚ fügt Tschernyschewski hinzu, „sind selbstverständlich nicht nur die<br />

Beziehungen des Menschen zu den Dingen und Geschöpfen der objektiven Welt zu verstehen,<br />

sondern auch sein Innenleben; zuweilen lebt der Mensch in Träumen – dann haben die<br />

Träume für ihn (bis zu einem gewissen Grade und für eine gewisse Zeit) die Bedeutung von<br />

etwas Objektivem; noch häufiger lebt der Mensch in der Welt seines Gefühls; diese Zustände<br />

werden, wenn sie ein gewisses Interesse erreichen, von der Kunst nachgebildet.“ 2 Das ist eine<br />

sehr wichtige Ergänzung, über die später viel zu sagen sein wird; daher bitten wir den Leser,<br />

ihr große Aufmerksamkeit zu schenken.<br />

Viele Kunstwerke reproduzieren das Leben nicht nur, sondern erklären es uns auch, weshalb<br />

1 „Grundsätze“, § 43. [Zit. Werk, § 44, S. 70.]<br />

2 [N. G. Tschernyschewski, Ausgewählte philosophische Schriften, S. 482.]<br />

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