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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

folgender Äußerung Tschernyschewskis über Lessing, für den er stets größte Liebe und Begeisterung<br />

empfand und dem er selbst in vieler Beziehung ähnelte.<br />

„Zu welchen Gebieten der geistigen Tätigkeit ihn seine eigenen Neigungen auch hinziehen<br />

mochten, er sprach und schrieb nur über das, wohin das geistige Leben seines Volkes strebte<br />

oder hinzustreben sich anschickte. Alles, was für die Nation keine aktuelle Bedeutung haben<br />

würde – so interessant es für ihn selbst sein mochte –‚ war für ihn kein Gegenstand für Abhandlungen<br />

oder Gespräche... Ohne jeden Zweifel, wenn es in Deutschland vor Kant einen von Natur<br />

aus philosophisch begabten Menschen gegeben hat, so war es Lessing... Und dabei hat er eigentlich<br />

fast kein einziges Wort über Philosophie geschrieben. Es war so, daß für die reine Philosophie<br />

der Zeitpunkt noch nicht da war, zum Lebenszentrum des deutschen Geisteslebens zu werden<br />

– und Lessing schwieg über Philosophie; die Gemüter der Zeitgenossen waren bereit, an der<br />

Dichtkunst lebendigen Anteil zu nehmen, aber zur Philosophie waren sie noch nicht reif – und<br />

Lessing schrieb Dramen und redete von der Dichtkunst... Für Naturen wie Lessing gibt es ein<br />

Dienen, das ihnen lieber ist als der Dienst an ihrer geliebten Wissenschaft, das ist der Dienst an<br />

der Entwicklung ihres Volkes. Und wenn sich der ‚Laokoon‘ oder die ‚Hamburgische Dramaturgie‘<br />

für die Nation als nützlicher erweist als ein System der Metaphysik oder eine anthologische<br />

Theorie, so schweigt ein [458] solcher Mensch von Metaphysik und untersucht mit liebevoller<br />

Hingabe literarische Fragen, obwohl Virgils ‚Æneis‘ und Voltaires ‚Semiramis‘ vom absoluten<br />

wissenschaftlichen Standpunkt aus unbedeutende und fast unnütze Gegenstände sind für<br />

einen Geist, der fähig ist, die Grundgesetze des menschlichen Lebens zu schauen.“<br />

Zu Beginn seiner literarischen Tätigkeit fand Tschernyschewski, daß sich die fortschrittlichen<br />

Schichten der Gesellschaft zumeist für die Literatur interessierten; deshalb machte er sich an<br />

die Erforschung der ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit. Später stellte unser<br />

gesellschaftliches Leben ökonomische Fragen in den Vordergrund; da ging auch er von<br />

der Ästhetik zur politischen Ökonomie über. Im ersten wie im zweiten Falle wurde der Gang<br />

seiner Arbeiten völlig bestimmt durch den Gang der geistigen Entwicklung seiner Leser, den<br />

der Gang der Entwicklung unseres gesellschaftlichen Lebens hervorgerufen hat.<br />

Im Vorwort zu seiner Dissertation sagt Tschernyschewski: „Achtung vor dem wirklichen<br />

Leben, Mißtrauen gegenüber aprioristischen Hypothesen, mögen sie auch der Phantasie angenehm<br />

sein – das ist das Kennzeichen der heute in der Wissenschaft herrschenden Richtung.<br />

Der Autor hält es für notwendig, auch unsere ästhetischen Grundsätze auf diesen Nenner zu<br />

bringen, wenn es sich überhaupt noch lohnt, von der Ästhetik zu reden.“ 1<br />

Viele – darunter auch Pissarew – erblickten in diesen Worten die angedeutete Überzeugung,<br />

die ästhetische Wissenschaft sei der völligen Vernichtung preisgegeben. Wir haben gezeigt,<br />

wie falsch diese Meinung war. In Wirklichkeit bedeuteten die Worte: „wenn es sich überhaupt<br />

noch lohnt, von der Ästhetik zu reden“, lediglich die Zweifel Tschernyschewskis darüber,<br />

mit welchen Fragen er sich eigentlich im gegebenen Augenblick an das Leserpublikum<br />

wenden müsse. Dieser Zweifel wird ganz verständlich, wenn wir uns erinnern, daß die Dissertation<br />

im April 1855 <strong>erschien</strong>, das heißt zu Beginn der Regierung des Kaisers Alexander,<br />

die in unserer Gesellschaft große Hoffnungen aufkommen ließ.<br />

In seinem Verhältnis zu den Lesern zeigt Tschernyschewski nur jene „Hinterlist“, die bei einem<br />

Lehrer stets vorhanden ist, der seine Aufgabe liebt. Der Lehrer will in seinem Schüler Lust und<br />

Liebe zur Sache wecken. Aber er beschränkt den Inhalt seiner Darlegungen natürlich nicht einzig<br />

und allein auf diese Gegenstände. Er strebt, alles zu bringen, was zur Erweiterung des geistigen<br />

Horizonts des Schülers beitragen kann und doch über das Niveau seiner Entwicklung<br />

nicht hinausgeht. So verfuhr Tschernyschewski stets, und er folgte hier wiederum den Grunds-<br />

1 [N. G. Tschernyschewski, Ausgewählte philosophische Schriften, S. 363.1<br />

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