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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

der „Leier“ umzugehen verstand. Dieser löbliche Ritter, welcher sagte, der Mensch werde nur<br />

danach geschätzt, wieviel Schläge er hinnehmen mußte und wieviel er selbst ausgeteilt hat,<br />

verfaßte unter anderem ein überaus poetisches Gedicht, in dem er den Frühling und den fröhlichen<br />

Kampf besang. „Lieb ist mir“, sagte er darin, „die warme Frühlingszeit, wo die Blätter<br />

und die Knospen springen; lieb ist mir, auf das Gezwitscher der Vögel und ihren fröhlichen<br />

Gesang zu lauschen, der aus den Zweigen erklingt.“ Nicht weniger lieb ist dem löblichen<br />

Ritter, wenn „Menschen und Vieh vor den dahersprengenden Kriegsleuten davonlaufen“; und<br />

weder Speise noch Trank noch Schlaf – nichts lockt ihn so wie „der Anblick der Toten, in<br />

denen noch die Waffe steckt, die sie eben durchbohrt hat“. Er fand, daß „ein Getöteter stets<br />

schöner ist als ein Lebender“.<br />

Nicht wahr, all das ist poetisch.<br />

Aber wir fragen uns manchmal: welchen Eindruck mußte solche Poesie auf jene „Villains“<br />

[„Gemeinen“] machen, die mit ihren Herden vor den dahersprengenden Kriegsleuten entsetzt<br />

flüchteten? Es ist sehr wohl möglich, daß sie, „roh“, wie sie waren, nichts Schönes in ihr sahen.<br />

Es ist sehr wohl möglich, daß sie ihnen etwas tendenziös <strong>erschien</strong>. Schließlich ist es sehr<br />

wohl möglich, daß etliche unter ihnen ihrerseits poetische Liedchen verfaßten, die ihren<br />

Schmerz ob der Verwüstungen ausdrückten, die die Ritter durch ihre kriegerischen Taten<br />

angerichtet hatten, und daß sie sagten, ein Lebender sei immer schöner als ein Getöteter.<br />

Wenn solche Liedchen wirklich verfaßt wurden, hielten sie die Ritter sicherlich für sehr tendenziös<br />

und entbrannten in Wut gegen die rohen Menschen, die nicht als durchlöcherte Leichen<br />

figurieren wollten und infolge ihrer völligen ästhetischen Rückständigkeit meinten, ihr<br />

Vieh mache einen weit lieblicheren Eindruck, wenn es friedlich auf den Feldern weidet, als<br />

wenn es vor den dahersprengenden Rittern nach allen Richtungen entsetzt davonrennt. Alles<br />

auf der Welt ist relativ, es kommt immer auf den Standpunkt an, auch wenn es Herrn N–on<br />

nicht paßt.<br />

Unsere Aufklärer haben die Poesie durchaus nicht mißachtet, aber sie haben jeder anderen die<br />

Poesie der Tat vorgezogen. Die Dichterstimme der friedlichen Beschaulichkeit, die die Gemüter<br />

der Zeitgenossen noch vor kurzem in ihren Bann gezogen hatte, fand in ihrem Herzen<br />

nun fast gar keinen Widerhall mehr; sie brauchten eine Muse des Kampfes, die „Muse der<br />

Rache und des Leids“, und die besang<br />

[457]<br />

Die ungehemmte, wilde Fehde<br />

Mit aller Grausamkeit und Niedertracht<br />

Und großes hoffendes Vertrauen<br />

Zum Schaffen, das den Eigennutz verlacht.<br />

Sie waren bereit, den Gesängen dieser Muse entzückt zu lauschen, und man zieh sie der<br />

Herzlosigkeit, der Gefühlsroheit, der Selbstsucht, der Sinnenlust. So wird Geschichte geschrieben!<br />

Doch kehren wir zu Tschernyschewski zurück!<br />

Wenn die Kunst nicht Selbstzweck sein kann, wenn ihre Hauptbedeutung in der Förderung<br />

der geistigen Entwicklung der Gesellschaft liegt, dann ist verständlich, daß sie etwas in den<br />

Hintergrund treten muß, falls sich die Möglichkeit bietet, gesunde Anschauungen auf einem<br />

kürzeren Wege in der Gesellschaft zu verbreiten. Der Aufklärer steht nicht wider die Kunst,<br />

aber er ist auch nicht unbedingt ihr leidenschaftlicher Anhänger. Er hat überhaupt zu nichts<br />

eine ausschließliche, leidenschaftliche Hinneigung – außer zu seinem großen und einzigen<br />

Ziel: der Verbreitung gesunder Anschauungen in der Gesellschaft. Das wird sehr deutlich in<br />

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