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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

ker, der ein Kunstwerk beurteilt, müsse vor allem dessen Idee klar hervorheben und erst dann<br />

– im „zweiten Akt“ der Untersuchung – die Idee in den Gestalten untersuchen, das heißt die<br />

Form der Beurteilung unterziehen. Heißt das, Belinski war der Ansicht, nicht dem Ästhetiker<br />

stehe das Recht zu, ein endgültiges Urteil über die Kunstwerke zu fällen, sondern dem Denker?<br />

Ganz und gar nicht. Belinski hätte gesagt, daß eine solche Gegenüberstellung des Denkers<br />

und Ästhetikers ganz und gar willkürlich und durchaus unbegründet sei. Ein Kunstwerk<br />

analysieren heißt seine Idee erfassen und seine Form beurteilen. Der Kritiker muß sowohl<br />

über den Inhalt als auch über die Form urteilen; er muß sowohl Ästhetiker als auch Denker<br />

sein; kurz gesagt, das Ideal der Kritik ist die philosophische Kritik, der auch das Recht zusteht,<br />

über die Kunstwerke ein endgültiges Urteil zu fällen. Fast dasselbe könnte man sagen,<br />

wenn man die ästhetische Theorie Tschernyschewskis zugrunde legt. Die Menschen fassen<br />

das Leben durchaus nicht alle in gleicher Weise auf, und deshalb weichen ihre Urteile über<br />

das Schöne sehr stark voneinander ab. Kann man aber sagen, sie haben alle recht? Nein –<br />

[452] der hat richtige Begriffe vom Leben, jener irrt sich; deshalb urteilt der eine richtig über<br />

das Schöne, der andere aber falsch. Der Kritiker muß unbedingt ein denkender Mensch sein.<br />

Aber nicht jeder denkende Mensch kann Kritiker sein. Tschernyschewski sagt: „So wird z. B.<br />

aus der Definition ‚das Schöne ist das Leben‘ verständlich, warum es im Bereich des Schönen<br />

keine abstrakten Gedanken, sondern nur individuelle Wesen gibt – wir sehen ja das Leben<br />

nur in wirklichen lebendigen Wesen, und die abstrakten allgemeine Gedanken gehören<br />

nicht zum Bereich des Lebendigen.“ 1 Deshalb genügt es nicht, den Wert eines Kunstwerkes<br />

vom Standpunkt des „abstrakten Gedankens“ zu bestimmen: man muß auch verstehen, seine<br />

Form zu würdigen, das heißt zu untersuchen, inwieweit es dem Künstler geglückt ist, seine<br />

Idee bildlich zu verkörpern. Wenn wir das Schöne sehen, ergreift uns ein Gefühl heller Freude.<br />

Aber dieses Gefühl ist nicht immer gleich stark – selbst bei Menschen nicht, die völlig<br />

gleiche Ansichten vom Leben haben. Bei diesen ist es stärker, bei jenen schwächer. Menschen,<br />

bei denen es stärker ist, sind geeigneter, die Form eines Kunstwerkes zu würdigen, als<br />

jene, bei denen es verhältnismäßig schwach ist. Deshalb kann ein guter Kunstkritiker nur der<br />

sein, in dem sich mit einer stark entwickelten Denkfähigkeit auch ein stark entwickeltes<br />

ästhetisches Gefühl verbindet.<br />

Außerdem hat Pissarew nicht bemerkt, daß das Wort Ästhetik bei ihm einen anderen Sinn hat<br />

als bei Tschernyschewski. Für ihn war die Ästhetik die „Wissenschaft vom Schönen“ und für<br />

Tschernyschewski – die „Theorie der Kunst, das System der allgemeinen Prinzipien der<br />

Kunst überhaupt und der Dichtkunst im besonderen“. Tschernyschewski weist in seiner Dissertation<br />

nach, daß sich das Gebiet der Kunst nicht auf das Gebiet des Schönen beschränkt<br />

und sich nicht darauf beschränken kann. „Selbst wenn man sich der Meinung anschließt, daß<br />

das Erhabene und das Komische Momente des Schönen sind“, so sagt er, „so fügt sich eine<br />

Menge von Kunstwerken ihrem Inhalt nach nicht in diese drei Rubriken: das Schöne, das<br />

Erhabene, das Komische ein... Das Schöne, das Tragische, das Komische sind nur die drei am<br />

meisten bestimmten Elemente unter Tausenden von Elementen, die das Leben interessant<br />

machen und die aufzuzählen gleichbedeute wäre mit der Aufzählung aller Gefühle, aller Bestrebungen,<br />

die das Herz des Menschen bewegen.“ 2<br />

[453] Er sagt auch, daß der Grund, warum man das Schöne für gewöhnlich als den einzigen<br />

Inhalt der Kunst betrachtet, in der unklaren Unterscheidung zwischen dem Schönen als Ob-<br />

1 [Ebenda, S. 376.]<br />

2 [Ebenda, S. 476 u. 477.] In seinem Buche über die Kunst legt L. Tolstoi dar, daß das Gebiet der Kunst unvergleichlich<br />

tiefer stehe als das Gebiet des Schönen. Tschernyschewski erwähnt er aber mit keinem Wort. Das ist um<br />

so bedauerlicher, als die rationalistische Argumentation unseres berühmten Romanschriftstellers über die Kunst<br />

sehr an die Art der Argumente erinnert, denen wir in der Dissertation: „Die ästhetischen Beziehungen der Kunst<br />

zur Wirklichkeit“ begegnen.<br />

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