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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013 Pissarew glaubte, schon allein deshalb habe es keinen Sinn, über die Ästhetik zu reden, weil man über den Geschmack nicht streiten soll. „Die Ästhetik oder die Wissenschaft vom Schönen hat vernünftigerweise nur dann eine Existenzberechtigung, wenn das Schöne irgendeine selbständige Bedeutung hat, unabhängig von der unendlichen. Verschiedenartigkeit des persönlichen Geschmacks. Wenn aber nur schön ist, was uns gefällt, und wenn infolgedessen die verschiedenartigsten Auffassungen über die Schönheit gleichermaßen berechtigt sind, dann löst sich die Ästhetik in nichts auf. Jeder einzelne Mensch bildet sich seine eigene Ästhetik, und folglich wird eine allgemeine Ästhetik, die die persönlichen Geschmacksrichtungen zur notwendigen Einheit führt, unmöglich.“ Tschernyschewski hätte darauf erwidert, daß unendlich verschiedenartiger als die normalen Geschmacksrichtungen die menschlichen Launen seien und daß das Schöne ohne Zweifel selbständige Bedeutung besitze, die von der unendlichen Mannigfaltigkeit der persönlichen Geschmacksrichtungen völlig unabhängig ist. Nach seiner Definition ist das Leben das Schöne. So zum Beispiel erscheint dem Menschen im Tierreich das als schön, worin sich, nach menschlichen Begriffen, die von Gesundheit und Kraft erfüllte Frische des Lebens ausdrückt. Bei den Säugetieren, deren Bau sich für unsere Augen leichter mit dem Äußeren des Menschen vergleichen läßt, erscheinen uns runde Formen, Fülle, Frische und Grazie als schön, „weil die Bewegungen irgendeines Wesens dann graziös sind, wenn es ‚gut gebaut‘ ist, d. h., wenn es an einen gutgebauten und nicht an einen mißgestalteten Menschen erinnert“ 1 . Die Formen des Krokodils oder der Eidechse erinnern zwar an Säugetiere, aber nur als Mißgestalten. Deshalb erscheinen sie uns abstoßend. Der Frosch ist nicht nur mißgestaltet in seinen Formen, er ist außerdem mit kaltem Schleim bedeckt, mit dem sich auch ein toter Körper überzieht. Deshalb ist er uns noch widerwärtiger. Mit einem Wort, allen unseren ästhetischen Urteilen liegt unsere Auffassung vom Leben zugrunde. Begegnete uns ein Mensch, der bei der Berührung einer mit Schleim bedeckten Leiche eine angenehme Empfindung hat, würden wir ihm natürlich nicht beweisen wollen, daß er sich irre: Empfindungen lassen sich mit Syllogismen nicht beseitigen. Aber wir wären vollauf berechtigt, seine Organisation für etwas Außergewöhnliches, Anomales, das heißt der Natur des Menschen nicht Entsprechendes zu halten. Wir wußten vielleicht nicht, welche pathologische [451] Ursache es gerade ist, die diese Abweichung von der menschlichen Natur hervorgerufen hat, aber wir zweifelten nicht daran, daß eine solche Ursache vorhanden sei. Das Schöne hat ebenso selbständige Bedeutung wie die menschliche Natur. II So urteilte Tschernyschewski. Freilich hatte er in seiner Definition des Schönen nicht das organische Leben allein im Auge. Als er sagte: „Das Schöne ist das Leben“, setzte er sogleich hinzu: „... schön ist das Wesen, in dem wir das Leben so sehen, wie es nach unserer Auffassung sein sollte.“ 2 Das war ja auch der Grund, warum Pissarew glaubte, das Ziel Tschernyschewskis bestehe in der Zerstörung der Ästhetik. „Die ‚Doktrin‘ der ‚Ästhetischen Beziehungen‘ ist gerade dadurch bemerkenswert“, sagt er, „daß sie die Fesseln der alten ästhetischen Theorien, indem sie sie sprengt, durchaus nicht durch neue Fesseln ersetzt. Diese Doktrin sagt offen und entschieden, daß das Recht, über Kunstwerke ein endgültiges Urteil zu fällen, nicht dem Ästhetiker zusteht – der kann nur über die Form urteilen –‚ sondern einem denkenden Menschen, der über den Inhalt urteilt, das heißt über die Erscheinungen des Lebens.“ Das ist wiederum eine unrichtige Folgerung. Wahrhaftig, Belinski glaubte, wie wir wissen, der Inhalt der Dichtkunst sei identisch mit dem Inhalt der Philosophie, und der Kriti- 1 [Ebenda, S. 373.] 2 [Ebenda, S. 369. Die Hervorhebungen stammen von Plechanow.] 3

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013 ker, der ein Kunstwerk beurteilt, müsse vor allem dessen Idee klar hervorheben und erst dann – im „zweiten Akt“ der Untersuchung – die Idee in den Gestalten untersuchen, das heißt die Form der Beurteilung unterziehen. Heißt das, Belinski war der Ansicht, nicht dem Ästhetiker stehe das Recht zu, ein endgültiges Urteil über die Kunstwerke zu fällen, sondern dem Denker? Ganz und gar nicht. Belinski hätte gesagt, daß eine solche Gegenüberstellung des Denkers und Ästhetikers ganz und gar willkürlich und durchaus unbegründet sei. Ein Kunstwerk analysieren heißt seine Idee erfassen und seine Form beurteilen. Der Kritiker muß sowohl über den Inhalt als auch über die Form urteilen; er muß sowohl Ästhetiker als auch Denker sein; kurz gesagt, das Ideal der Kritik ist die philosophische Kritik, der auch das Recht zusteht, über die Kunstwerke ein endgültiges Urteil zu fällen. Fast dasselbe könnte man sagen, wenn man die ästhetische Theorie Tschernyschewskis zugrunde legt. Die Menschen fassen das Leben durchaus nicht alle in gleicher Weise auf, und deshalb weichen ihre Urteile über das Schöne sehr stark voneinander ab. Kann man aber sagen, sie haben alle recht? Nein – [452] der hat richtige Begriffe vom Leben, jener irrt sich; deshalb urteilt der eine richtig über das Schöne, der andere aber falsch. Der Kritiker muß unbedingt ein denkender Mensch sein. Aber nicht jeder denkende Mensch kann Kritiker sein. Tschernyschewski sagt: „So wird z. B. aus der Definition ‚das Schöne ist das Leben‘ verständlich, warum es im Bereich des Schönen keine abstrakten Gedanken, sondern nur individuelle Wesen gibt – wir sehen ja das Leben nur in wirklichen lebendigen Wesen, und die abstrakten allgemeine Gedanken gehören nicht zum Bereich des Lebendigen.“ 1 Deshalb genügt es nicht, den Wert eines Kunstwerkes vom Standpunkt des „abstrakten Gedankens“ zu bestimmen: man muß auch verstehen, seine Form zu würdigen, das heißt zu untersuchen, inwieweit es dem Künstler geglückt ist, seine Idee bildlich zu verkörpern. Wenn wir das Schöne sehen, ergreift uns ein Gefühl heller Freude. Aber dieses Gefühl ist nicht immer gleich stark – selbst bei Menschen nicht, die völlig gleiche Ansichten vom Leben haben. Bei diesen ist es stärker, bei jenen schwächer. Menschen, bei denen es stärker ist, sind geeigneter, die Form eines Kunstwerkes zu würdigen, als jene, bei denen es verhältnismäßig schwach ist. Deshalb kann ein guter Kunstkritiker nur der sein, in dem sich mit einer stark entwickelten Denkfähigkeit auch ein stark entwickeltes ästhetisches Gefühl verbindet. Außerdem hat Pissarew nicht bemerkt, daß das Wort Ästhetik bei ihm einen anderen Sinn hat als bei Tschernyschewski. Für ihn war die Ästhetik die „Wissenschaft vom Schönen“ und für Tschernyschewski – die „Theorie der Kunst, das System der allgemeinen Prinzipien der Kunst überhaupt und der Dichtkunst im besonderen“. Tschernyschewski weist in seiner Dissertation nach, daß sich das Gebiet der Kunst nicht auf das Gebiet des Schönen beschränkt und sich nicht darauf beschränken kann. „Selbst wenn man sich der Meinung anschließt, daß das Erhabene und das Komische Momente des Schönen sind“, so sagt er, „so fügt sich eine Menge von Kunstwerken ihrem Inhalt nach nicht in diese drei Rubriken: das Schöne, das Erhabene, das Komische ein... Das Schöne, das Tragische, das Komische sind nur die drei am meisten bestimmten Elemente unter Tausenden von Elementen, die das Leben interessant machen und die aufzuzählen gleichbedeute wäre mit der Aufzählung aller Gefühle, aller Bestrebungen, die das Herz des Menschen bewegen.“ 2 [453] Er sagt auch, daß der Grund, warum man das Schöne für gewöhnlich als den einzigen Inhalt der Kunst betrachtet, in der unklaren Unterscheidung zwischen dem Schönen als Ob- 1 [Ebenda, S. 376.] 2 [Ebenda, S. 476 u. 477.] In seinem Buche über die Kunst legt L. Tolstoi dar, daß das Gebiet der Kunst unvergleichlich tiefer stehe als das Gebiet des Schönen. Tschernyschewski erwähnt er aber mit keinem Wort. Das ist um so bedauerlicher, als die rationalistische Argumentation unseres berühmten Romanschriftstellers über die Kunst sehr an die Art der Argumente erinnert, denen wir in der Dissertation: „Die ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit“ begegnen. 4

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 19.07.2013<br />

Pissarew glaubte, schon allein deshalb habe es keinen Sinn, über die Ästhetik zu reden, weil<br />

man über den Geschmack nicht streiten soll. „Die Ästhetik oder die Wissenschaft vom Schönen<br />

hat vernünftigerweise nur dann eine Existenzberechtigung, wenn das Schöne irgendeine<br />

selbständige Bedeutung hat, unabhängig von der unendlichen. Verschiedenartigkeit des persönlichen<br />

Geschmacks. Wenn aber nur schön ist, was uns gefällt, und wenn infolgedessen die<br />

verschiedenartigsten Auffassungen über die Schönheit gleichermaßen berechtigt sind, dann<br />

löst sich die Ästhetik in nichts auf. Jeder einzelne Mensch bildet sich seine eigene Ästhetik,<br />

und folglich wird eine allgemeine Ästhetik, die die persönlichen Geschmacksrichtungen zur<br />

notwendigen Einheit führt, unmöglich.“<br />

Tschernyschewski hätte darauf erwidert, daß unendlich verschiedenartiger als die normalen<br />

Geschmacksrichtungen die menschlichen Launen seien und daß das Schöne ohne Zweifel<br />

selbständige Bedeutung besitze, die von der unendlichen Mannigfaltigkeit der persönlichen<br />

Geschmacksrichtungen völlig unabhängig ist. Nach seiner Definition ist das Leben das Schöne.<br />

So zum Beispiel erscheint dem Menschen im Tierreich das als schön, worin sich, nach<br />

menschlichen Begriffen, die von Gesundheit und Kraft erfüllte Frische des Lebens ausdrückt.<br />

Bei den Säugetieren, deren Bau sich für unsere Augen leichter mit dem Äußeren des Menschen<br />

vergleichen läßt, erscheinen uns runde Formen, Fülle, Frische und Grazie als schön,<br />

„weil die Bewegungen irgendeines Wesens dann graziös sind, wenn es ‚gut gebaut‘ ist, d. h.,<br />

wenn es an einen gutgebauten und nicht an einen mißgestalteten Menschen erinnert“ 1 . Die<br />

Formen des Krokodils oder der Eidechse erinnern zwar an Säugetiere, aber nur als Mißgestalten.<br />

Deshalb erscheinen sie uns abstoßend. Der Frosch ist nicht nur mißgestaltet in seinen<br />

Formen, er ist außerdem mit kaltem Schleim bedeckt, mit dem sich auch ein toter Körper<br />

überzieht. Deshalb ist er uns noch widerwärtiger. Mit einem Wort, allen unseren ästhetischen<br />

Urteilen liegt unsere Auffassung vom Leben zugrunde. Begegnete uns ein Mensch, der bei<br />

der Berührung einer mit Schleim bedeckten Leiche eine angenehme Empfindung hat, würden<br />

wir ihm natürlich nicht beweisen wollen, daß er sich irre: Empfindungen lassen sich mit Syllogismen<br />

nicht beseitigen. Aber wir wären vollauf berechtigt, seine Organisation für etwas<br />

Außergewöhnliches, Anomales, das heißt der Natur des Menschen nicht Entsprechendes zu<br />

halten. Wir wußten vielleicht nicht, welche pathologische [451] Ursache es gerade ist, die<br />

diese Abweichung von der menschlichen Natur hervorgerufen hat, aber wir zweifelten nicht<br />

daran, daß eine solche Ursache vorhanden sei. Das Schöne hat ebenso selbständige Bedeutung<br />

wie die menschliche Natur.<br />

II<br />

So urteilte Tschernyschewski. Freilich hatte er in seiner Definition des Schönen nicht das<br />

organische Leben allein im Auge. Als er sagte: „Das Schöne ist das Leben“, setzte er sogleich<br />

hinzu: „... schön ist das Wesen, in dem wir das Leben so sehen, wie es nach unserer Auffassung<br />

sein sollte.“ 2 Das war ja auch der Grund, warum Pissarew glaubte, das Ziel<br />

Tschernyschewskis bestehe in der Zerstörung der Ästhetik. „Die ‚Doktrin‘ der ‚Ästhetischen<br />

Beziehungen‘ ist gerade dadurch bemerkenswert“, sagt er, „daß sie die Fesseln der alten<br />

ästhetischen Theorien, indem sie sie sprengt, durchaus nicht durch neue Fesseln ersetzt. Diese<br />

Doktrin sagt offen und entschieden, daß das Recht, über Kunstwerke ein endgültiges Urteil<br />

zu fällen, nicht dem Ästhetiker zusteht – der kann nur über die Form urteilen –‚ sondern einem<br />

denkenden Menschen, der über den Inhalt urteilt, das heißt über die Erscheinungen des<br />

Lebens.“ Das ist wiederum eine unrichtige Folgerung. Wahrhaftig, Belinski glaubte, wie wir<br />

wissen, der Inhalt der Dichtkunst sei identisch mit dem Inhalt der Philosophie, und der Kriti-<br />

1 [Ebenda, S. 373.]<br />

2 [Ebenda, S. 369. Die Hervorhebungen stammen von Plechanow.]<br />

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