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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 18.07.2013<br />

bekannten Definition: die Literatur ist der Ausdruck der Gesellschaft, urteilt er so: „Das ist<br />

zweifellos richtig, aber leider ist das ein zu unbestimmtes Prinzip. Auf welche Weise bringt<br />

die Literatur die Gesellschaft zum Ausdruck? Wie entwickelt sich diese Gesellschaft selbst?<br />

Welche Kunstformen entsprechen der jeweiligen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung?<br />

Welche Elemente der Kunst entsprechen jedem gegebenen gesellschaftlichen Element? Unausweichliche<br />

Aufgaben, gewaltige und fruchtbringende Fragen! Das angegebene Prinzip<br />

erhält seine wahre Bedeutung erst dann, wenn es von den blassen Höhen, in denen es jetzt<br />

schwebt, heruntersteigt und dadurch die Präzision, instruktive Fülle und klare gedankliche<br />

Fülle eines umfassenden, in den Einzelheiten dargelegten Systems erwirbt.“ 1<br />

Belinski erklärte die Dichtkunst Puschkins aus dem gesellschaftlichen Zustand Rußlands, aus<br />

der historischen Rolle und aus der Lage jenes Standes, dem unser großer Dichter angehörte.<br />

Michiels wandte dasselbe Verfahren auf die Geschichte der flämischen Malerei an. Es ist sehr<br />

wohl möglich, daß Belinski nicht alle von Michiels der Kunstkritik und Kunstgeschichte zugewiesenen<br />

Aufgaben in ihrer ganzen Fülle durchdacht hat. In dieser Beziehung war Michiels<br />

Belinski möglicherweise voraus, aber in anderer sehr wichtiger Beziehung stand er hinter ihm<br />

zurück. In seinen Überlegungen über die zwischen den Formen der Kunst einerseits und den<br />

gesellschaftlichen Entwicklungsphasen anderseits bestehende Abhängigkeit ließ Michiels den<br />

Umstand außer acht, daß jede zivilisierte Gesellschaft aus Ständen oder Klassen besteht, deren<br />

Entwicklung und historische Kollisionen die Geschichte aller Ideologien in einem außerordentlich<br />

klaren Lichte erscheinen lassen. Wie man sieht, verstand Belinski bereits die<br />

Wichtigkeit der Bedeutung dieses Umstandes, obwohl [445] er sich darüber noch nicht ganz<br />

klargeworden war. Und je mehr er darüber Klarheit gewann, näherten sich seine Ansichten<br />

den Ansichten der neueren Materialisten.<br />

Ohne Herrn Wolynski kränken zu wollen, sei gesagt: die Ansicht über Puschkin als einen<br />

humanen und gebildeten Dichter des russischen Adels ist nicht nur an sich richtig, sondern<br />

sie zeigt auch den richtigen Standpunkt zum Verstehen der Haltung unserer späteren Aufklärer<br />

gegenüber Puschkin. In der zweiten Hälfte der vierziger Jahre war Belinski überzeugt, daß<br />

bei uns das Ende der Leibeigenschaft und folglich auch des Adels als eines den anderen<br />

Ständen entgegengesetzten Standes nicht mehr fern sei. Das „Prinzip“ des Adels war in seinen<br />

Augen ein überlebtes Prinzip. Aber er wußte die historische Bedeutung dieses Prinzips zu<br />

würdigen. Er weist auf die Epoche hin, in deren Verlauf der Adel der gebildetste und „in jeder<br />

Beziehung beste Stand“ war. Deshalb konnte er die Poesie seines Lebens so wohl begreifen<br />

und mitfühlen. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre und zu Anfang der sechziger<br />

Jahre waren unsere Aufklärer nicht mehr imstande, sich zum Adel so unparteiisch zu verhalten.<br />

Das Prinzip des Adels wurde von ihrer Seite bedingungslos verurteilt. Kein Wunder, daß<br />

sie auch den Dichter verurteilten, in dessen Augen dieses Prinzip eine ewige Wahrheit war.<br />

Puschkins Dichtung war jeder Träumerei abhold, sie war nüchtern, sie stellte nur die Wirklichkeit<br />

dar. Das genügte, damit sie bei Belinski leidenschaftliche Sympathie fand. Und bei<br />

Pissarew mußte gerade diese Darstellung unserer alten Lebensart im Zauberlichte der Poesie<br />

Anstoß erregen. Und je mächtiger Puschkins Talent war, desto ablehnender mußten sich dazu<br />

unsere Aufklärer der sechziger Jahre verhalten. Übrigens wird bei uns davon später noch die<br />

Rede sein.<br />

Fassen wir zusammen: In der Epoche seiner Versöhnung mit der Wirklichkeit hatte sich Belinski<br />

zum Ziel gesetzt, die objektiven Grundlagen für die Kritik der Kunstwerke zu finden<br />

und diese Grundlagen mit der logischen Entwicklung der absoluten Idee in Zusammenhang<br />

zu bringen. Diese gesuchten objektiven Grundlagen fand er in einigen Gesetzen des Schönen,<br />

die von ihm (und seinem Lehrer) so ziemlich a priori, ohne die genügende aufmerksame Be-<br />

1 L. c., seconde édition, p. 15.<br />

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