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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 sicht des Grafen Tolstoi fängt „die Kunst ... dann an, wenn ein Mensch in der Absicht, den anderen Menschen das von ihm empfundene Gefühl mitzuteilen, dasselbe von neuem in sich hervorruft und es durch gewisse äußere Zeichen ausdrückt“ 1 . Ich aber glaube, die Kunst beginnt dann, wenn der Mensch in sich Gefühle und Gedanken von neuem wachruft, die er unter dem Einfluß der ihn umgebenden Wirklichkeit empfunden hat, und ihnen einen gewissen bildlichen Ausdruck verleiht. Selbstverständlich tut er das in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle mit dem Ziel, das Wiedergedachte und Wiederempfundene anderen Menschen weiterzugeben. Die Kunst ist eine gesellschaftliche Erscheinung. In diesen Berichtigungen erschöpft sich einstweilen das, was ich an der Definition der Kunst des Grafen Tolstoi ändern wollte. Aber ich bitte Sie, sehr geehrter Herr, auch folgenden Gedanken des Autors von „Krieg und Frieden“ zu beachten: „In jeder Zeit und in jeder menschlichen Gesellschaft gibt es ein allen Menschen dieser Gesellschaft gemeinsames religiöses Bewußtsein dessen, was gut und was schlecht ist und dieses religiöse Bewußtsein gerade bestimmt den Wert der Gefühle, die durch die Kunst wiedergegeben werden.“ 2 Unsere Untersuchung muß uns unter anderem zeigen, wie richtig [43] dieser Gedanke ist, der in jedem Fall größte Aufmerksamkeit verdient, weil er uns hart an die Frage der Rolle der Kunst in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit heranführt. Jetzt, da wir so etwas wie eine vorläufige Definition der Kunst haben, muß ich jenen Standpunkt erklären, von dem aus ich sie betrachte. Da will ich ohne Umschweife sagen, daß ich die Kunst und alle gesellschaftlichen Erscheinungen vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung betrachte. Was ist materialistische Geschichtsauffassung? Bekanntlich gibt es in der Mathematik eine indirekte Beweisführung. Ich nehme hier zu einem Verfahren Zuflucht, das man das Verfahren der indirekten Erklärung nennen kann. Ich werde nämlich anfangs daran erinnern, worin die idealistische Geschichtsauffassung besteht, und dann werde ich zeigen, wodurch sich von ihr die entgegengesetzte, die materialistische Auffassung desselben Gegenstandes unterscheidet. Die idealistische Geschichtsauffassung, in ihrer reinen Form genommen, beruht auf der Überzeugung, daß die Entwicklung des Denkens und Wissens die letzte und ursprünglichste Ursache der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit sei. Diese Anschauung war im 18. Jahrhundert überall vorherrschend, und von da ging sie auf das 19. Jahrhundert über. Noch Saint-Simon und Auguste Comte hielten an ihr fest, obwohl ihre Ansichten in vieler Beziehung das gerade Gegenteil der Ansichten der Philosophen des vorangegangenen Jahrhunderts waren. Saint-Simon befaßt sich beispielsweise mit der Frage, wie die gesellschaftliche Organisation der Griechen entstanden sei. 3 Und er beantwortet diese Frage so: „Das religiöse System (le système réligieux) diente bei ihnen als Grundlage des politischen Systems ... Dieses letztere war geschaffen nach dem Muster des ersteren!“ Und zum Beweise beruft er sich auf die Tatsache, der griechische Olymp sei eine „republikanische Versammlung“ gewesen, und die Verfassung aller Völker Griechenlands, so verschieden sie auch voneinander sein moch- 1 Ebenda, S. 77. [Zit. Werk, S. 67.] 2 Ebenda, S. 85. [Zit. Werk, S. 76.] 3 Griechenland war in den Augen Saint-Simons von besonderer Bedeutung, weil er meinte, daß „gerade bei den Griechen der menschliche Geist begonnen hat, sich ernsthaft mit der gesellschaftlichen Organisation zu beschäftigen“. [„c’est chez les Grecs que l’esprit humain a commencé à s’occuper sérieusement de l’organisation sociale“] 2

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 ten, hatten ein gemeinsames Merkmal – sie waren alle republikanisch. 1 Und das ist noch nicht alles. Das religiöse System, das dem politischen System der Griechen zugrunde lag, entsprang, so meinte Saint-Simon, aus der Gesamtheit ihrer wissenschaftlichen Begriffe, aus ihrem wissenschaftlichen Weltsystem. Die wissenschaftlichen Begriffe der Griechen waren also das tiefste Fundament ihres gesellschaftlichen Seins, die Entwicklung dieser Begriffe war die Haupttriebfeder der [44] historischen Entwicklung dieses Seins, die Hauptursache, die den historischen Wechsel der verschiedenen Formen bedingte. Ähnlich dachte Auguste Comte, „daß der ganze gesellschaftliche Mechanismus im Grunde auf den Anschauungen beruht“ 2 . Das ist eine einfache Wiederholung jener Anschauung der Enzyklopädisten, nach der c’est l’opinion qui gouverne le monde (die Ansichten die Welt regieren). Es gibt noch eine andere Abart des Idealismus, sie hat im absoluten Idealismus Hegels ihren höchsten Ausdruck gefunden. Wie erklärt er die historische Entwicklung der Menschheit von seinem Standpunkt aus? Ich werde das an einem Beispiel klarmachen. Hegel stellt sich die Frage: Warum ist Griechenland verfallen? Er weist auf viele Ursachen dieser Erscheinung hin; die wichtigste der Ursachen war aber in seinen Augen der Umstand, daß Griechenland nur eine Entwicklungsstufe der absoluten Idee darstellte und untergehen mußte, als diese Stufe durchlaufen war. Es ist klar, Hegel meinte – wohl wissend, daß „Sparta wegen der ungleichmäßigen Verteilung der Güter fiel“ –‚ die gesellschaftlichen Beziehungen und der ganze Gang der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit seien letztlich durch die Gesetze der Logik, durch den Gang der Entwicklung des Denken bestimmt. Die materialistische Geschichtsbetrachtung ist dieser Anschauung diametral entgegengesetzt. Wenn Saint-Simon, die Geschichte vom idealistischen Standpunkt aus betrachtend, dachte, die gesellschaftlichen Beziehungen der Griechen erklären sich aus ihren religiösen Anschauungen, so sage ich als Anhänger der materialistischen Anschauung, der republikanische Olymp der Griechen war die Widerspiegelung ihrer gesellschaftlichen Ordnung. Und wenn Saint-Simon auf die Frage, woher die religiösen Anschauungen der Griechen gekommen sind, antwortete, sie seien aus ihrer wissenschaftlichen Weltanschauung hervorgegangen, so bin ich der Ansicht, daß die wissenschaftliche Weltanschauung der Griechen in ihrer historischen Entwicklung durch die Entwicklung der Produktivkräfte, die den Völkern von Hellas zur Verfügung standen, bedingt wurde. 3 Das ist meine Art der Betrachtung der Geschichte im allgemeinen. Ist sie richtig? Es ist hier nicht am Platz, ihre Richtigkeit zu beweisen. Ich [45] bitte Sie, anzunehmen, sie sei richtig, und zusammen mit mir diesen Vorschlag zum Ausgangspunkt unserer Untersuchung über die Kunst zu machen. Es versteht sich von selbst, daß diese Untersuchung einer Teilfrage der Kunst gleichzeitig ein Prüfstein der allgemeinen Ansichten über die Geschichte sein wird. In der Tat, wenn diese allgemeine Auffassung falsch ist, werden wir, da wir sie zum Ausgangspunkt gewählt haben, sehr weniges in der Entwicklung der Kunst erklären können. Wenn wir aber die Überzeugung gewinnen, daß diese Entwicklung mit ihrer Hilfe besser erklärt wird als mittels anderer Anschauungen, dann bietet sich uns ein neuer und starker Beweis zu ihren Gunsten. 1 Siehe sein „Mémoire sur la science de l’homme“. 2 „Cours de philosophie positive“, Paris 1869, t. I, pp. 40/41: [... que tout le mécanisme social repose finalement sur des opinions]. 3 Vor einigen Jahren erschien in Paris ein Buch von A. Espinas, „Histoire de la Technologie“; es ist ein Versuch, die Entwicklung der Weltanschauung der alten Griechen aus der Entwicklung der Produktivkräfte zu erklären. Das ist ein äußerst wichtiger und interessanter Versuch, für den wir Espinas sehr dankbar sein müssen, obwohl seine Untersuchung in vielen Einzelheiten fehlerhaft ist. 3

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

sicht des Grafen Tolstoi fängt „die Kunst ... dann an, wenn ein Mensch in der Absicht, den<br />

anderen Menschen das von ihm empfundene Gefühl mitzuteilen, dasselbe von neuem in sich<br />

hervorruft und es durch gewisse äußere Zeichen ausdrückt“ 1 . Ich aber glaube, die Kunst beginnt<br />

dann, wenn der Mensch in sich Gefühle und Gedanken von neuem wachruft, die er unter<br />

dem Einfluß der ihn umgebenden Wirklichkeit empfunden hat, und ihnen einen gewissen<br />

bildlichen Ausdruck verleiht. Selbstverständlich tut er das in der überwiegenden Mehrzahl der<br />

Fälle mit dem Ziel, das Wiedergedachte und Wiederempfundene anderen Menschen weiterzugeben.<br />

Die Kunst ist eine gesellschaftliche Erscheinung.<br />

In diesen Berichtigungen erschöpft sich einstweilen das, was ich an der Definition der Kunst<br />

des Grafen Tolstoi ändern wollte.<br />

Aber ich bitte Sie, sehr geehrter Herr, auch folgenden Gedanken des Autors von „Krieg und<br />

Frieden“ zu beachten:<br />

„In jeder Zeit und in jeder menschlichen Gesellschaft gibt es ein allen Menschen dieser Gesellschaft<br />

gemeinsames religiöses Bewußtsein dessen, was gut und was schlecht ist und dieses<br />

religiöse Bewußtsein gerade bestimmt den Wert der Gefühle, die durch die Kunst wiedergegeben<br />

werden.“ 2<br />

Unsere Untersuchung muß uns unter anderem zeigen, wie richtig [43] dieser Gedanke ist, der<br />

in jedem Fall größte Aufmerksamkeit verdient, weil er uns hart an die Frage der Rolle der<br />

Kunst in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit heranführt.<br />

Jetzt, da wir so etwas wie eine vorläufige Definition der Kunst haben, muß ich jenen Standpunkt<br />

erklären, von dem aus ich sie betrachte.<br />

Da will ich ohne Umschweife sagen, daß ich die Kunst und alle gesellschaftlichen Erscheinungen<br />

vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung betrachte.<br />

Was ist materialistische Geschichtsauffassung?<br />

Bekanntlich gibt es in der Mathematik eine indirekte Beweisführung. Ich nehme hier zu einem<br />

Verfahren Zuflucht, das man das Verfahren der indirekten Erklärung <strong>nennen</strong> kann. Ich<br />

werde nämlich anfangs daran erinnern, worin die idealistische Geschichtsauffassung besteht,<br />

und dann werde ich zeigen, wodurch sich von ihr die entgegengesetzte, die materialistische<br />

Auffassung desselben Gegenstandes unterscheidet.<br />

Die idealistische Geschichtsauffassung, in ihrer reinen Form genommen, beruht auf der<br />

Überzeugung, daß die Entwicklung des Denkens und Wissens die letzte und ursprünglichste<br />

Ursache der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit sei. Diese Anschauung war im 18.<br />

Jahrhundert überall vorherrschend, und von da ging sie auf das 19. Jahrhundert über. Noch<br />

Saint-Simon und Auguste Comte hielten an ihr fest, obwohl ihre Ansichten in vieler Beziehung<br />

das gerade Gegenteil der Ansichten der Philosophen des vorangegangenen Jahrhunderts<br />

waren. Saint-Simon befaßt sich beispielsweise mit der Frage, wie die gesellschaftliche Organisation<br />

der Griechen entstanden sei. 3 Und er beantwortet diese Frage so: „Das religiöse System<br />

(le système réligieux) diente bei ihnen als Grundlage des politischen Systems ... Dieses<br />

letztere war geschaffen nach dem Muster des ersteren!“ Und zum Beweise beruft er sich auf<br />

die Tatsache, der griechische Olymp sei eine „republikanische Versammlung“ gewesen, und<br />

die Verfassung aller Völker Griechenlands, so verschieden sie auch voneinander sein moch-<br />

1 Ebenda, S. 77. [Zit. Werk, S. 67.]<br />

2 Ebenda, S. 85. [Zit. Werk, S. 76.]<br />

3 Griechenland war in den Augen Saint-Simons von besonderer Bedeutung, weil er meinte, daß „gerade bei den<br />

Griechen der menschliche Geist begonnen hat, sich ernsthaft mit der gesellschaftlichen Organisation zu beschäftigen“.<br />

[„c’est chez les Grecs que l’esprit humain a commencé à s’occuper sérieusement de l’organisation sociale“]<br />

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