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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 18.07.2013<br />

auf ein Minimum zu reduzieren. Natürlich, in der französischen Tragödie blieb vieles konventionell<br />

und unwahrscheinlich. Da aber dieses Konventionelle ein für allemal festgelegt<br />

und dem Publikum bekannt war, hinderte es dieses auch gar nicht daran, das Wahre zu sehen.<br />

Man muß auch daran denken, daß vieles von dem, was in unserer Zeit als konventionell und<br />

steif erscheint, im 17. Jahrhundert als einfach und natürlich <strong>erschien</strong>. Mit Rücksicht darauf<br />

wäre es seltsam, die Kunstwerke jenes Jahrhunderts mit dem Maßstab unserer jetzigen ästhetischen<br />

Begriffe zu messen. Im übrigen hat Belinski auch selbst gefühlt, daß man zugunsten<br />

der französischen Tragödie außerordentlich viele mildernde Umstände anführen kann. In dem<br />

Aufsatz über „Boris Godunow“ sagt er, nachdem er bemerkt hat, daß Puschkin die Gestalt<br />

des Pimen in seinem ersten Monolog sehr idealisiert habe: „Folglich sind diese herrlichen<br />

Worte Lüge, aber eine Lüge, die soviel wert ist [440] wie die Wahrheit: so sehr ist sie von<br />

Poesie erfüllt, so bezaubernd wirkt sie auf Verstand und Gefühl! Wieviel Unwahres in dieser<br />

Art haben Corneille und Racine gesagt, und doch applaudiert die aufgeklärteste und gebildetste<br />

Nation in Europa bis auf den heutigen Tag dieser Lüge! Und es ist kein Wunder: In dieser<br />

Lüge hinsichtlich der Zeit, des Ortes und der Sitten ist Wahrheit hinsichtlich des menschlichen<br />

Herzens, der menschlichen Natur.“ Unsrerseits wollen wir sagen, daß die „Lüge“ Corneilles<br />

und Racines Wahrheit gewesen ist nicht so sehr hinsichtlich des menschlichen Herzens<br />

im allgemeinen als vielmehr hinsichtlich des Herzens des damaligen französischen gebildeten<br />

Publikums. Wie dem aber auch sei, es besteht kein Zweifel, daß sich in einem ästhetischen<br />

Kodex, der auf breiter historischer Grundlage aufgebaut ist, für eine solche „Lüge“<br />

sui generis [eigener Art] ein Plätzchen finden muß.<br />

Die Ansicht Belinskis über die Rolle der großen Männer in der Literaturgeschichte hat auch<br />

für die Gegenwart noch Gültigkeit. Auch in der gegenwärtigen Zeit kann man nicht umhin<br />

zuzugeben, daß ein großer Dichter nur groß ist als Repräsentant eines großen Moments in der<br />

historischen Entwicklung der Gesellschaft. Bei der Beurteilung eines großen Schriftstellers<br />

wie auch jeder anderen geschichtlichen Größe muß man, wie Belinski so schön gesagt hat,<br />

vor allem die Stelle des Weges bestimmen, auf der er die Menschheit angetroffen hat. Viele<br />

sind auch jetzt noch der Meinung, diese Ansicht über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte<br />

lasse der menschlichen Individualität zuwenig Raum. Diese Meinung ist jedoch entschieden<br />

unbegründet. Das Individuum hört nicht auf, Individuum zu sein, wenn es Repräsentant<br />

der gemeinsamen Bestrebungen seiner Zeit ist. Richtig ist das: Zu völliger Befriedigung<br />

läßt sich die Hegelsche Ansicht Belinskis über die Rolle der großen Männer in der Geschichte<br />

der Kunst und überhaupt in der ganzen Geschichte der Menschheit nur mittels der<br />

Theorie des historischen Materialismus begründen. In der Tat, denken Sie an das, was Belinski<br />

in dem Artikel über „Verstand schafft Leiden“ sagt: „Die Gesellschaft ist immer mehr<br />

im Recht als der Einzelmensch und steht über ihm, und die Einzelindividualität ist eben nur<br />

bis zu dem Grade Wirklichkeit und nicht Phantom, als sie die Gesellschaft repräsentiert.“ In<br />

welchem Sinne muß nun die Einzelpersönlichkeit die Gesellschaft repräsentieren? Als Sokrates<br />

in Athen seine Philosophie zu predigen begann, brachte er zweifelsohne nicht die Ansichten<br />

zum Ausdruck, denen die Mehrzahl seiner Mitbürger huldigte. Also geht es hier nicht um<br />

die Ansichten. Und wenn nicht, worum dann eigentlich? Und bildet die Mehrzahl das „Gemeinsame“,<br />

dem die Individualität dienen und sich unterordnen muß? Diese Fragen hat Belinski<br />

weder in seinen Artikeln noch in seinen Briefen beantwortet. Nachdem er den [441]<br />

„absoluten“ Standpunkt aufgegeben hatte, hat er nur erklärt, für ihn stehe die Persönlichkeit<br />

über der Geschichte, über der Gesellschaft, über der Menschheit. Das ist keine philosophische<br />

Lösung der Frage. Bei Hegel ist Sokrates ein Held, weil seine Philosophie einen neuen<br />

Schritt in der historischen Entwicklung Athens repräsentiert. Wo ist das Kriterium für die<br />

Beurteilung dieses Schrittes? Da die Geschichte bei Hegel im Grunde nur angewandte Logik<br />

ist, muß man das Kriterium in den Gesetzen der dialektischen Entwicklung der absoluten Idee<br />

suchen. Das ist zum mindesten etwas Unklares. Ganz anders erscheint die Sache den neueren<br />

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