erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 18.07.2013 stellen wollen, der die Menschenwürde über alles schätzt und [432] deshalb mit einer Gesellschaft bricht, die diese Würde bei jedem Schritt zu Boden tritt, aber in Wirklichkeit eine grausame Satire auf Aleko selbst wie auch auf alle Menschen geschrieben, die so sind wie er. Aber diese Dichtung Puschkins ist durchaus keine bloße Satire auf den Egoismus und den Mangel an Konsequenz. Sie dringt viel tiefer in die Dinge ein, sie erklärt die Psyche einer ganzen historischen Epoche. Aleko verdammt die gegenwärtige Gesellschaftsordnung, nachdem er aber in das beinahe urgesellschaftliche Milieu der Zigeuner geraten ist, läßt er sich in seinen Beziehungen zu der geliebten Frau weiterhin von Ansichten leiten, die in der Gesellschaft herrschen, die er gerade aufgegeben. Er will wiederherstellen, was er zerstören wollte. Seine Psyche ist die eines französischen Romantikers. Die französischen Romantiker verstanden es ebenfalls nicht und waren nicht imstande, mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu brechen, gegen die sie sich auflehnten. „Ich greife nicht die Ehe an, sondern die Männer“, schrieb George Sand. Das ist äußerst charakteristisch. Die Romantiker haben zwar die Kapitalisten angegriffen, aber sie waren nie gegen den Kapitalismus, sie haben mit den Armen sympathisiert, waren aber bereit, jene Gesellschaftsordnung mit Waffen zu verteidigen, die sich auf die Ausbeutung der Armen stützt. Unsere Romantik war in vieler Beziehung eine Nachahmung der französischen und beging die gleiche Sünde, aber in noch höherem Maße. Die Volkstümlerrichtung unserer Tage, die sich so laut und mitleidig gegen den Kapitalismus empört, in Wirklichkeit aber den Kleinkapitalismus kultiviert, zeigt deutlich, daß wir bisher noch nicht von der Romantik losgekommen sind. Puschkin hat den fundamentalen Widerspruch der Romantiker sehr wohl erfaßt, obwohl er natürlich nicht imstande war, sich ihn historisch zu erklären. Zudem hatte er sich selbst in der Zeit, da er sein Gedicht schrieb, noch nicht völlig von der Romantik losgelöst. „Die Zigeuner“ sind eine romantische Dichtung, die die Achillesferse der Romantik bloßlegt. Im Charakter des Aleko ist nichts Falsches: Aleko ist so, wie er seiner Herkunft nach sein muß. Falsch gezeichnet sind die Charaktere der Nebenpersonen des Gedichts. So ist zum Beispiel der Charakter der Semfira in ihren Beziehungen zum Manne unausgeglichen. Sie gesteht zu, daß er irgendwelche Rechte auf sie habe. Aber woher kamen denn diese Rechte? Man sieht doch an allem, daß das Milieu, das Semfira umgibt, sie nicht anerkennt. Der alte Zigeuner sagt: Luft’ger als die Schwingen Des Vögleins ist der Jugend Lust, Wer könnte sich zur Liebe zwingen? (A) [433] Die Beziehungen, zu denen es zwischen Aleko und Semfira kommen sollte, waren selbst Puschkin unklar. Daher die Inkonsequenz in ihrer Darstellung. Aber Belinski hat sie nicht bemerkt, weil er seine Aufmerksamkeit auf die Frage konzentrierte, wie sich wahrhaft kultivierte Menschen dem Gefühl der Eifersucht gegenüber verhalten sollen. Durch dieselbe abstrakte Betrachtungsweise erklären sich auch manche Seiten in Belinskis Analyse des „Onegin“. Wir wollen die Stellen beiseite lassen, wo er Betrachtungen über die menschliche Natur im allgemeinen und darüber anstellt, wozu der Mensch geboren ist: für das Gute oder für das Böse; dort ist er Aufklärer reinsten Wassers. Wir wollen auf seine Beziehung zu Tatjana hinweisen. Er sympathisiert mit ihr sehr, kann ihr aber ihre letzte Aussprache mit Onegin nicht verzeihen. Er kann sich ewige Treue ohne Liebe nicht vorstellen. „Treu in Ewigkeit – wem und worin?“ fragt er. „Einer Beziehung treu, die nichts anderes ist als eine Profanation weiblicher Gefühle und weiblicher Sauberkeit, weil gewisse Beziehungen, wenn sie nicht durch Liebe geheiligt werden, in höchstem Grade unsittlich sind... Bei uns jedoch geht das alles so irgendwie in einem hin: Poesie – und Leben, Liebe – und Ehe aus Berechnung, seelenvolles Leben – und strenge Einhaltung äußerlicher Verpflichtungen, 27

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 18.07.2013 die innerlich jeden Augenblick durchbrochen werden.“ Und schließlich stellt sich ihm der Charakter der Tatjana als ein Gemisch ländlicher Verträumtheit und städtischer Klugheit dar, und am meisten gefällt ihm der Charakter der Maria in „Poltawa“, die beste, wie er meint, Charakterzeichnung, die in den Werken Puschkins zu finden ist. Bekanntlich hat Pissarew die Gestalt der Tatjana rundweg abgelehnt und sich gewundert, wie Belinski diesem unreifen „träumerischen Mädchen“ Sympathie entgegenbringen konnte. Dieser Unterschied in der Einstellung zweier Aufklärer hinsichtlich ein und desselben Frauentypus ist außerordentlich bemerkenswert. Es handelt sich darum, daß sich die Ansicht Belinskis von der Frau wesentlich von der Ansicht der Aufklärer der sechziger Jahre unterschied. Tatjana hatte ihn durch ihre starke Liebe für sich eingenommen, und er war bei der Ansicht geblieben, die Hauptbestimmung der Frau sei die Liebe. In den sechziger Jahren dachte man nicht mehr so, und die damaligen Aufklärer anerkannten nicht mehr den mildernden Umstand, der in hohem Grade der Grund war, warum Belinski die Gestalt der Tatjana nachsichtig behandelte. Hinsichtlich des „Stammbaumes meines Helden“ erteilt Belinski Puschkin einen strengen Verweis wegen seiner aristokratischen Neigungen. Er sagt: „Der Dichter macht den Menschen unserer Zeit, die von vornehmer Herkunft sind, den Vorwurf, daß sie ihre Väter, ihren Ruhm, ihre Rechte [434] und ihre Ehre mißachten – ein Vorwurf, der ebenso beschränkt wie unbegründet ist. Wenn ein Mensch nicht damit prahlt, daß er in direkter Linie von irgendeinem großen Menschen abstamme: bedeutet denn das unbedingt, daß er seinen großen Vorfahren, seinen Ruhm, seine großen Taten mißachte? Es scheint, diese Schlußfolgerung wurde hier ganz willkürlich gezogen. Seine Vorfahren mißachten, wenn sie gerade nichts Großes geleistet haben, ist lächerlich und dumm: es ist möglich, sie nicht hochzuschätzen, wenn sie nicht der Hochschätzung wert sind, und doch gleichzeitig nicht zu mißachten, wenn sie diese Mißachtung nicht verdienen. Wo die Hochschätzung nicht am Platze ist, dort ist Mißachtung nicht immer angebracht: geschätzt wird das Gute, verachtet das Schlechte; wenn aber das Gute fehlt, setzt das nicht immer das Schlechte voraus, und umgekehrt. Noch lächerlicher ist es, stolz zu sein auf fremde Größe oder sich wegen fremder Niedrigkeit zu schämen. Der erste Gedanke ist hervorragend klar dargestellt in der ausgezeichneten Fabel Krylows, ‚Die Gänse‘; der zweit Gedanke ist an und für sich klar.“ An einer anderen Stelle bemerkt er: „Von Puschkin als Nachkommen einer alten Familie hätte man nur im Kreise seiner Bekannten etwas gewußt, nicht aber in Rußland, für das in diesem Umstand nichts Interessantes lag; als Dichter war Puschkin aber in ganz Rußland bekannt, das jetzt stolz auf diesen Sohn ist, der seiner Mutter Ehre macht... Wer braucht zu wissen, daß ein armer Adliger, der von seinen literarischen Arbeiten existiert, als Reichtum eine lange Ahnenreihe aufzuweisen hat, von der man in der Geschichte wenig weiß? Viel interessanter war es zu wissen, was dieser geniale Dichter Neues schreiben wird.“ Das ist richtig, aber trotzdem ist die Frage nach den aristokratischen Neigungen Puschkins viel komplizierter, als Belinski annahm. In diesen Neigungen lag nicht eine bloße Nachahmung Byrons und überhaupt der aristokratischen Schriftsteller Westeuropas. Nein, es lag darin viel Eigenes, Russisches, etwas, was in Frankreich oder England im 19. Jahrhundert nicht mehr anzutreffen war. Um unseren Gedanken klarzumachen, wollen wir den Leser bitten, sich zu vergegenwärtigen, daß Moltschalin, der vor Famussow und jedem anderen hochgestellten Herrn auf dem Bauche lag, selbst zu „hohen Ehren“ gelangt sei, wie es Tschazki vorausgesagt hatte. Man kann überzeugt sein, daß er in diesem Falle stolz den Kopf hochgetragen hätte und daß von seiner früheren unterwürfigen Haltung keine Spur mehr übriggeblieben wäre. Und seine Kinder würden von klein auf ein unerträglich hochmütiges Wesen zur Schau getragen haben und hätten sich eingebildet, sie seien große Aristokraten. Wir haben überhaupt für aristokratische Ansprüche nichts übrig, aber wahrhaftig, der falsche Aristokratismus der Beamtenparvenus ist noch viel unerträglicher als der Ari- 28

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die innerlich jeden Augenblick durchbrochen werden.“ Und schließlich stellt sich ihm der<br />

Charakter der Tatjana als ein Gemisch ländlicher Verträumtheit und städtischer Klugheit dar,<br />

und am meisten gefällt ihm der Charakter der Maria in „Poltawa“, die beste, wie er meint,<br />

Charakterzeichnung, die in den Werken Puschkins zu finden ist.<br />

Bekanntlich hat Pissarew die Gestalt der Tatjana rundweg abgelehnt und sich gewundert, wie<br />

Belinski diesem unreifen „träumerischen Mädchen“ Sympathie entgegenbringen konnte.<br />

Dieser Unterschied in der Einstellung zweier Aufklärer hinsichtlich ein und desselben Frauentypus<br />

ist außerordentlich bemerkenswert. Es handelt sich darum, daß sich die Ansicht Belinskis<br />

von der Frau wesentlich von der Ansicht der Aufklärer der sechziger Jahre unterschied.<br />

Tatjana hatte ihn durch ihre starke Liebe für sich eingenommen, und er war bei der<br />

Ansicht geblieben, die Hauptbestimmung der Frau sei die Liebe. In den sechziger Jahren<br />

dachte man nicht mehr so, und die damaligen Aufklärer anerkannten nicht mehr den mildernden<br />

Umstand, der in hohem Grade der Grund war, warum Belinski die Gestalt der Tatjana<br />

nachsichtig behandelte.<br />

Hinsichtlich des „Stammbaumes meines Helden“ erteilt Belinski Puschkin einen strengen<br />

Verweis wegen seiner aristokratischen Neigungen. Er sagt: „Der Dichter macht den Menschen<br />

unserer Zeit, die von vornehmer Herkunft sind, den Vorwurf, daß sie ihre Väter, ihren<br />

Ruhm, ihre Rechte [434] und ihre Ehre mißachten – ein Vorwurf, der ebenso beschränkt wie<br />

unbegründet ist. Wenn ein Mensch nicht damit prahlt, daß er in direkter Linie von irgendeinem<br />

großen Menschen abstamme: bedeutet denn das unbedingt, daß er seinen großen Vorfahren,<br />

seinen Ruhm, seine großen Taten mißachte? Es scheint, diese Schlußfolgerung wurde<br />

hier ganz willkürlich gezogen. Seine Vorfahren mißachten, wenn sie gerade nichts Großes<br />

geleistet haben, ist lächerlich und dumm: es ist möglich, sie nicht hochzuschätzen, wenn sie<br />

nicht der Hochschätzung wert sind, und doch gleichzeitig nicht zu mißachten, wenn sie diese<br />

Mißachtung nicht verdienen. Wo die Hochschätzung nicht am Platze ist, dort ist Mißachtung<br />

nicht immer angebracht: geschätzt wird das Gute, verachtet das Schlechte; wenn aber das<br />

Gute fehlt, setzt das nicht immer das Schlechte voraus, und umgekehrt. Noch lächerlicher ist<br />

es, stolz zu sein auf fremde Größe oder sich wegen fremder Niedrigkeit zu schämen. Der erste<br />

Gedanke ist hervorragend klar dargestellt in der ausgezeichneten Fabel Krylows, ‚Die<br />

Gänse‘; der zweit Gedanke ist an und für sich klar.“ An einer anderen Stelle bemerkt er:<br />

„Von Puschkin als Nachkommen einer alten Familie hätte man nur im Kreise seiner Bekannten<br />

etwas gewußt, nicht aber in Rußland, für das in diesem Umstand nichts Interessantes lag;<br />

als Dichter war Puschkin aber in ganz Rußland bekannt, das jetzt stolz auf diesen Sohn ist,<br />

der seiner Mutter Ehre macht... Wer braucht zu wissen, daß ein armer Adliger, der von seinen<br />

literarischen Arbeiten existiert, als Reichtum eine lange Ahnenreihe aufzuweisen hat, von der<br />

man in der Geschichte wenig weiß? Viel interessanter war es zu wissen, was dieser geniale<br />

Dichter Neues schreiben wird.“ Das ist richtig, aber trotzdem ist die Frage nach den aristokratischen<br />

Neigungen Puschkins viel komplizierter, als Belinski annahm. In diesen Neigungen<br />

lag nicht eine bloße Nachahmung Byrons und überhaupt der aristokratischen Schriftsteller<br />

Westeuropas. Nein, es lag darin viel Eigenes, Russisches, etwas, was in Frankreich oder England<br />

im 19. Jahrhundert nicht mehr anzutreffen war. Um unseren Gedanken klarzumachen,<br />

wollen wir den Leser bitten, sich zu vergegenwärtigen, daß Moltschalin, der vor Famussow<br />

und jedem anderen hochgestellten Herrn auf dem Bauche lag, selbst zu „hohen Ehren“ gelangt<br />

sei, wie es Tschazki vorausgesagt hatte. Man kann überzeugt sein, daß er in diesem Falle<br />

stolz den Kopf hochgetragen hätte und daß von seiner früheren unterwürfigen Haltung keine<br />

Spur mehr übriggeblieben wäre. Und seine Kinder würden von klein auf ein unerträglich<br />

hochmütiges Wesen zur Schau getragen haben und hätten sich eingebildet, sie seien große<br />

Aristokraten. Wir haben überhaupt für aristokratische Ansprüche nichts übrig, aber wahrhaftig,<br />

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