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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

[41]<br />

Briefe ohne Adresse *<br />

Sehr geehrter Herr!<br />

Lassen Sie uns über die Kunst sprechen.<br />

Erster Brief<br />

Bei jeder einigermaßen genauen Untersuchung, welches auch ihr Gegenstand sei, muß man<br />

aber eine strenge Terminologie einhalten. Darum müssen wir vor allem feststellen, welchen<br />

Begriff wir eigentlich mit dem Worte Kunst verbinden. Anderseits unterliegt es keinem Zweifel,<br />

daß es zu einer einigermaßen befriedigenden Definition eines Gegenstandes nur im Ergebnis<br />

seiner Untersuchung kommen kann. Es ergibt sich, daß wir etwas bestimmen sollen,<br />

was zu bestimmen wir noch nicht imstande sind. Wie soll man aus diesem Widerspruch herauskommen?<br />

Ich denke, man kann aus ihm auf folgende Weise herauskommen: ich halte<br />

mich zunächst an eine vorläufige Definition; dann ergänze und berichtige ich sie in dem Maße,<br />

wie die Frage durch die Untersuchung geklärt wird.<br />

An welche Definition soll ich mich nun zunächst halten?<br />

Leo Tolstoi führt in seinem Buche „Was ist Kunst?“ eine Menge wie ihm scheint einander widersprechender<br />

Definitionen der Kunst an und findet sie alle unbefriedigend. In Wirklichkeit<br />

weichen die von ihm angeführten Definitionen bei weitem nicht so voneinander ab und sind bei<br />

weitem nicht so falsch, wie es ihm erscheint. Aber geben wir zu, sie seien alle wirklich sehr<br />

schlecht, und prüfen wir, ob wir nicht seine eigene Definition der Kunst übernehmen können.<br />

„Wie das Wort...“, sagt er, „als Mittel zur Einigung der Menschen dient, so wirkt auch die<br />

Kunst. Die Eigentümlichkeit aber dieses Mittels der Gemeinschaft, die es von der Gemeinschaft<br />

durch das Wort unterscheidet, besteht darin, daß durch das Wort ein Mensch dem anderen<br />

seine Gedanken“ (von mir hervorgehoben) „mitteilt, durch die Kunst aber teilen die<br />

Menschen einander ihre Gefühle mit“ (wieder von mir hervorgehoben). 1<br />

Ich will meinerseits einstweilen nur eins bemerken.<br />

[42] Nach der Meinung des Grafen Tolstoi drückt die Kunst die Gefühle der Menschen aus,<br />

das Wort aber ihre Gedanken. Das ist nicht richtig. Das Wort dient den Menschen nicht nur<br />

zum Ausdruck ihrer Gedanken, sondern auch gerade zum Ausdruck ihrer Gefühle. Beweis:<br />

die Poesie, als deren Organ gerade das Wort dient.<br />

Graf Tolstoi selbst sagt:<br />

„In sich das einmal empfundene Gefühl hervorrufen und, nachdem man es in sich hervorgerufen<br />

hat, dieses Gefühl durch Bewegungen, Linien, Farben, Töne, Bilder, die durch Worte ausgedrückt<br />

sind, so wiederzugeben, daß andere dasselbe Gefühl empfinden – darin besteht die Tätigkeit<br />

der Kunst.“ 2 Schon daraus ist ersichtlich, daß man das Wort nicht als ein besonderes, sich<br />

von der Kunst unterscheidendes Mittel des Verkehrs zwischen den Menschen betrachten kann.<br />

Falsch ist auch, zu sagen, die Kunst drücke nur die Gefühle der Menschen aus. Nein, sie<br />

drückt sowohl ihre Gefühle als auch ihre Gedanken aus, aber nicht abstrakt, sondern in lebendigen<br />

Bildern. Und darin besteht ihr wichtigstes charakteristisches Merkmal. Nach An-<br />

* Anmerkungen zu: Briefe ohne Adresse (S. 41-171) am Ende des Kapitels.<br />

1 [Leo N. Tolstoi, „Was ist Kunst?“, Leipzig 1902, S. 65/66.]<br />

2 Werke des Grafen Tolstoi, Arbeiten der letzten Jahre, Moskau 1898, S. 78. [Tolstoi, „Was ist Kunst?“, S. 69;<br />

das ganze Zitat ist im Original hervorgehoben.]<br />

1

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