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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 18.07.2013<br />

fortschrittlichen Franzosen die Überzeugung verbreitet, daß die Kunst der „Tugend und Freiheit“<br />

zu dienen habe. M. J. Chénier, der im Jahre 1789 die Tragödie „Charles IX ou l’Ecole<br />

des Rois“ auf die Bühne brachte, wollte, daß das französische Theater den Bürgern Abscheu<br />

vor dem Aberglauben, Haß gegen die Bedrücker, Freiheitsliebe, Achtung vor den Gesetzen<br />

usw. usw. einflößen solle. 1<br />

In den folgenden Jahren wird das Theater, wie überhaupt die ganze französische Kunst, zu<br />

einem bloßen Werkzeug der politischen Propaganda. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfolgt<br />

die aufkommende Romantik ebenfalls völlig bewußt „soziale und politische Ziele“.<br />

„L’histoire des hommes“, sagte Victor Hugo, „ne présente de poésie que jugée du haut des<br />

idées monarchiques et des eroyances.“ [„Die Geschichte der Menschen hat nichts Poetisches<br />

an sich, es sei denn, man beurteilt sie von der Höhe der monarchischen und Glaubensideen<br />

herab.“] Die Zeitschrift „La Muse Française“ war erfreut darüber, daß die Literatur, ebenso<br />

wie die Politik und die Religion, ihr Glaubensbekenntnis hat (comme la politique et la religion,<br />

les lettres ont leur profession de foi). Um das Jahr 1824, nach dem [428] Kriege mit Spanien,<br />

ist ein bedeutsamer Umschwung in der Einstellung der Romantiker zum sozialen und<br />

politischen Element in der Dichtkunst zu bemerken. Dieses Element tritt in den Hintergrund,<br />

die Kunst wird „uneigennützig“ (désintéressé). In den dreißiger Jahren predigt ein Teil der<br />

Romantiker, mit Théophile Gautier an der Spitze, leidenschaftlich die Theorie der Kunst für<br />

die Kunst. Théophile Gautier sagte, daß die Dichtkunst nicht nur nichts „beweisen“, sondern<br />

sogar nichts „erzählen“ dürfe (elle ne prouve rien, ne raconte rien). Für ihn bestand die ganze<br />

Dichtkunst aus Musik und Rhythmus. Nach 1848 halten manche französische Schriftsteller,<br />

wie G. Flaubert, weiterhin an der Theorie der Kunst für die Kunst fest, während andere, wie<br />

A. Dumas der Jüngere, erklären, daß diese drei Worte (l’art pour l’art [Kunst für die Kunst])<br />

nicht den geringsten Sinn haben, und behaupten, die Literatur müsse unbedingt den gesellschaftlichen<br />

Nutzen im Auge haben. Wer hatte recht: M. J. Chénier oder Th. Gautier; G.<br />

Flaubert oder Dumas der Jüngere? Wir glauben, daß sie alle recht hatten, da jeder von ihnen<br />

seine eigene relative Wahrheit besaß. Voltaire, Diderot, M. J. Chénier und andere literarische<br />

Repräsentanten des dritten Standes, der die Aristokratie und den Klerus bekämpfte, konnten<br />

nicht Anhänger der reinen Kunst sein, weil der Verzicht auf die soziale und politische Propaganda<br />

mittels ihrer mehr oder weniger schöngeistigen Werke eine freiwillige Schwächung<br />

der Erfolgsaussichten ihres eigenen Werkes bedeutet hätte. Sie hatten recht als Vertreter des<br />

dritten Standes auf einer bestimmten Stufe seiner historischen Entwicklung. Hugo, für den<br />

nur die historischen Ereignisse den Stoff der Dichtkunst liefern konnten, die vom Triumph<br />

der Monarchie und des Katholizismus zeugten, war in dieser Epoche seines Lebens Repräsentant<br />

der höheren Stände, die die alte Ordnung wiederherzustellen versuchten. Er hatte<br />

recht in dem Sinne, daß die soziale und politische Propaganda mittels der Poesie und der<br />

Kunst für die genannten Stände sehr nützlich war. Aber die Reihen der Anhänger der französischen<br />

Romantik wurden immer stärker durch die gebildeten Söhne der Bourgeoisie ergänzt,<br />

die natürlich völlig andere Bestrebungen hatte. Auf die Seite dieser Bourgeoisie gingen einige<br />

Anhänger der Romantik über, die früher die alte Ordnung verherrlicht hatten. Diesen<br />

Schritt unternahm zum Beispiel Hugo. Dementsprechend änderte sich auch das romantische<br />

„Glaubensbekenntnis“. Nach 1830 werden manche Romantiker, ohne über die gesellschaftliche<br />

Rolle der Kunst irgendwelche Überlegungen anzustellen, zu Verkündern der recht verschwommenen<br />

Ideale der Kleinbourgeoisie, und andere predigen die Theorie der Kunst für<br />

die Kunst, wobei sie über der Form zuweilen gänzlich den Inhalt vergessen. Und alle haben<br />

in ihrer Art recht. Die Kleinbourgeoisie war unbefriedigt geblieben: für sie war es etwas Natürliches,<br />

diese Unzufriedenheit in der [429] Literatur zum Ausdruck zu bringen. Auf der<br />

anderen Seite hatten auch die Anhänger der reinen Kunst recht. Ihre Theorien bedeuteten<br />

1 Siehe seinen „Discours préliminaire“ vom 22. August 1788.<br />

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