erschien nennen menschenähnlichen
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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 18.07.2013 weisen, der sich nicht in philosophisch-historische Erwägungen verlieren wollte, sondern, wie man sieht, sich sehr für die Psychologie des Künstlers interessierte. 1 Der Gedanke war für ihn etwas Erfreuliches, daß nichts ihm den hohen Genuß des Schaffens rauben konnte, so sehr er auch vom Schicksal gehetzt sein mochte, welche Erniedrigungen es ihm auch bereiten mochte. VII Belinskis Einwände gegen die Anhänger der reinen Kunst sind überhaupt wenig überzeugend. Er sagt ihnen, obgleich Shakespeare alles durch die Dichtkunst wiedergegeben habe, gehöre das von ihm Wiedergegebene nicht einzig und allein der Dichtkunst an. Wie soll man das verstehen? Gibt es denn ein Gebiet, das ausschließlich der Dichtkunst eigen ist? Ist doch ihr Inhalt der gleiche wie der Inhalt der Philosophie und besteht doch zwischen dem Dichter und dem Philosophen der Unterschied nur darin, daß dieser in Bildern denkt, jener in Syllogismen. Oder ist es nicht so? Aus Belinskis Worten ergibt sich, daß es tatsächlich nicht so ist. Aber er wiederholt mit voller Überzeugung die Idee von der Identität des Inhalts der Dichtkunst mit dem Inhalt der Philosophie in dem gleichen Artikel, in dem sich der uns interessierende Hinweis auf Shakespeare befindet. Es ist klar, daß er einfach mit seiner Argumentation nicht zu Rande kam. Ebenso gerät er durcheinander, wenn er sagt, der „Faust“ sei die Widerspiegelung des ganzen gesellschaftlichen Lebens und der ganzen philosophischen Bewegung Deutschlands zur Zeit des Verfassers gewesen. Seine Gegner könnten fragen: Was folgt daraus? Die Kunst ist der Ausdruck des gesellschaftlichen Lebens und des philosophischen Denkens aus dem einfachen Grunde, weil sie nichts anderes zum Ausdruck bringen kann: ist doch ihr Inhalt derselbe wie der Inhalt der Philosophie. Das widerlegt nun durchaus nicht die Theorie, derzufolge die Kunst Selbstzweck sein muß, und steht auch zu dieser Theorie in keiner direkten Beziehung. Das gleiche läßt sich von den Erwägungen Belinskis über die griechische Kunst sagen: gewiß hat sie ihre Ideen aus der Religion und dem gesellschaftlichen Leben entlehnt. Aber die Frage ist die, wie sie sich zur Darstellung [427] dieser Ideen in den Formen verhielt, die sich aus der Natur der Kunst selbst ergaben. Wenn sie für die griechischen Künstler Selbstzweck war, so war ihre Kunst eine reine Kunst, und wenn diese Darstellung der Ideen in Bildern bei ihnen nur ein Mittel zur Erreichung irgendwelcher Nebenzwecke war, ganz gleichgültig, welche es waren, so stand sie im Widerspruch zum Ideal der Kunst. Weiter. Wenn sich Belinski darauf beruft, daß in der neueren Kunst der Inhalt die Form überhaupt überwiegt, so legt er diesem Gedanken Hegels nicht den Sinn bei, den er bei dem deutschen Denker hatte. Bei diesem bedeutete er nur, daß in der griechischen Kunst das Schöne das Hauptelement bildete, daß es aber in der neueren Kunst häufig anderen Elementen den ersten Platz einräumt. Das ist ein richtiger Gedanke, und wir werden noch darauf zurückkommen. Aber daraus folgt ebenfalls keineswegs, daß die Kunst in der neueren Gesellschaft eine untergeordnete Rolle spielte oder spielen muß, daß sie jetzt nicht Selbstzweck sein kann. Wir wiederholen, Belinski gerät in seinen Beweisen in Verwirrung. Nun, bei Menschen mit hervorragendem Verstande pflegen manchmal gerade die Irrtümer außerordentlich lehrreich zu sein. Warum hat sich unser Kritiker geirrt? Die Frage, ob die Kunst Selbstzweck sein könne, wurde in den verschiedenen historischen Epochen verschieden gelöst. Nehmen wir meinetwegen Frankreich. Voltaire, Diderot und überhaupt die sogenannten Enzyklopädisten haben nicht im geringsten daran gezweifelt, daß die Kunst der „Tugend“ dienen müsse. Um das Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich unter den 1 Wir wollen daran erinnern, daß sein Mozart sagt: „Genie und Übeltat sind zwei unvereinbare Dinge.“ 23
OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 18.07.2013 fortschrittlichen Franzosen die Überzeugung verbreitet, daß die Kunst der „Tugend und Freiheit“ zu dienen habe. M. J. Chénier, der im Jahre 1789 die Tragödie „Charles IX ou l’Ecole des Rois“ auf die Bühne brachte, wollte, daß das französische Theater den Bürgern Abscheu vor dem Aberglauben, Haß gegen die Bedrücker, Freiheitsliebe, Achtung vor den Gesetzen usw. usw. einflößen solle. 1 In den folgenden Jahren wird das Theater, wie überhaupt die ganze französische Kunst, zu einem bloßen Werkzeug der politischen Propaganda. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfolgt die aufkommende Romantik ebenfalls völlig bewußt „soziale und politische Ziele“. „L’histoire des hommes“, sagte Victor Hugo, „ne présente de poésie que jugée du haut des idées monarchiques et des eroyances.“ [„Die Geschichte der Menschen hat nichts Poetisches an sich, es sei denn, man beurteilt sie von der Höhe der monarchischen und Glaubensideen herab.“] Die Zeitschrift „La Muse Française“ war erfreut darüber, daß die Literatur, ebenso wie die Politik und die Religion, ihr Glaubensbekenntnis hat (comme la politique et la religion, les lettres ont leur profession de foi). Um das Jahr 1824, nach dem [428] Kriege mit Spanien, ist ein bedeutsamer Umschwung in der Einstellung der Romantiker zum sozialen und politischen Element in der Dichtkunst zu bemerken. Dieses Element tritt in den Hintergrund, die Kunst wird „uneigennützig“ (désintéressé). In den dreißiger Jahren predigt ein Teil der Romantiker, mit Théophile Gautier an der Spitze, leidenschaftlich die Theorie der Kunst für die Kunst. Théophile Gautier sagte, daß die Dichtkunst nicht nur nichts „beweisen“, sondern sogar nichts „erzählen“ dürfe (elle ne prouve rien, ne raconte rien). Für ihn bestand die ganze Dichtkunst aus Musik und Rhythmus. Nach 1848 halten manche französische Schriftsteller, wie G. Flaubert, weiterhin an der Theorie der Kunst für die Kunst fest, während andere, wie A. Dumas der Jüngere, erklären, daß diese drei Worte (l’art pour l’art [Kunst für die Kunst]) nicht den geringsten Sinn haben, und behaupten, die Literatur müsse unbedingt den gesellschaftlichen Nutzen im Auge haben. Wer hatte recht: M. J. Chénier oder Th. Gautier; G. Flaubert oder Dumas der Jüngere? Wir glauben, daß sie alle recht hatten, da jeder von ihnen seine eigene relative Wahrheit besaß. Voltaire, Diderot, M. J. Chénier und andere literarische Repräsentanten des dritten Standes, der die Aristokratie und den Klerus bekämpfte, konnten nicht Anhänger der reinen Kunst sein, weil der Verzicht auf die soziale und politische Propaganda mittels ihrer mehr oder weniger schöngeistigen Werke eine freiwillige Schwächung der Erfolgsaussichten ihres eigenen Werkes bedeutet hätte. Sie hatten recht als Vertreter des dritten Standes auf einer bestimmten Stufe seiner historischen Entwicklung. Hugo, für den nur die historischen Ereignisse den Stoff der Dichtkunst liefern konnten, die vom Triumph der Monarchie und des Katholizismus zeugten, war in dieser Epoche seines Lebens Repräsentant der höheren Stände, die die alte Ordnung wiederherzustellen versuchten. Er hatte recht in dem Sinne, daß die soziale und politische Propaganda mittels der Poesie und der Kunst für die genannten Stände sehr nützlich war. Aber die Reihen der Anhänger der französischen Romantik wurden immer stärker durch die gebildeten Söhne der Bourgeoisie ergänzt, die natürlich völlig andere Bestrebungen hatte. Auf die Seite dieser Bourgeoisie gingen einige Anhänger der Romantik über, die früher die alte Ordnung verherrlicht hatten. Diesen Schritt unternahm zum Beispiel Hugo. Dementsprechend änderte sich auch das romantische „Glaubensbekenntnis“. Nach 1830 werden manche Romantiker, ohne über die gesellschaftliche Rolle der Kunst irgendwelche Überlegungen anzustellen, zu Verkündern der recht verschwommenen Ideale der Kleinbourgeoisie, und andere predigen die Theorie der Kunst für die Kunst, wobei sie über der Form zuweilen gänzlich den Inhalt vergessen. Und alle haben in ihrer Art recht. Die Kleinbourgeoisie war unbefriedigt geblieben: für sie war es etwas Natürliches, diese Unzufriedenheit in der [429] Literatur zum Ausdruck zu bringen. Auf der anderen Seite hatten auch die Anhänger der reinen Kunst recht. Ihre Theorien bedeuteten 1 Siehe seinen „Discours préliminaire“ vom 22. August 1788. 24
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weisen, der sich nicht in philosophisch-historische Erwägungen verlieren wollte, sondern,<br />
wie man sieht, sich sehr für die Psychologie des Künstlers interessierte. 1 Der Gedanke war<br />
für ihn etwas Erfreuliches, daß nichts ihm den hohen Genuß des Schaffens rauben konnte, so<br />
sehr er auch vom Schicksal gehetzt sein mochte, welche Erniedrigungen es ihm auch bereiten<br />
mochte.<br />
VII<br />
Belinskis Einwände gegen die Anhänger der reinen Kunst sind überhaupt wenig überzeugend.<br />
Er sagt ihnen, obgleich Shakespeare alles durch die Dichtkunst wiedergegeben habe,<br />
gehöre das von ihm Wiedergegebene nicht einzig und allein der Dichtkunst an. Wie soll man<br />
das verstehen? Gibt es denn ein Gebiet, das ausschließlich der Dichtkunst eigen ist? Ist doch<br />
ihr Inhalt der gleiche wie der Inhalt der Philosophie und besteht doch zwischen dem Dichter<br />
und dem Philosophen der Unterschied nur darin, daß dieser in Bildern denkt, jener in Syllogismen.<br />
Oder ist es nicht so? Aus Belinskis Worten ergibt sich, daß es tatsächlich nicht so ist.<br />
Aber er wiederholt mit voller Überzeugung die Idee von der Identität des Inhalts der Dichtkunst<br />
mit dem Inhalt der Philosophie in dem gleichen Artikel, in dem sich der uns interessierende<br />
Hinweis auf Shakespeare befindet. Es ist klar, daß er einfach mit seiner Argumentation<br />
nicht zu Rande kam.<br />
Ebenso gerät er durcheinander, wenn er sagt, der „Faust“ sei die Widerspiegelung des ganzen<br />
gesellschaftlichen Lebens und der ganzen philosophischen Bewegung Deutschlands zur Zeit<br />
des Verfassers gewesen. Seine Gegner könnten fragen: Was folgt daraus? Die Kunst ist der<br />
Ausdruck des gesellschaftlichen Lebens und des philosophischen Denkens aus dem einfachen<br />
Grunde, weil sie nichts anderes zum Ausdruck bringen kann: ist doch ihr Inhalt derselbe wie<br />
der Inhalt der Philosophie. Das widerlegt nun durchaus nicht die Theorie, derzufolge die<br />
Kunst Selbstzweck sein muß, und steht auch zu dieser Theorie in keiner direkten Beziehung.<br />
Das gleiche läßt sich von den Erwägungen Belinskis über die griechische Kunst sagen: gewiß<br />
hat sie ihre Ideen aus der Religion und dem gesellschaftlichen Leben entlehnt. Aber die Frage<br />
ist die, wie sie sich zur Darstellung [427] dieser Ideen in den Formen verhielt, die sich aus der<br />
Natur der Kunst selbst ergaben. Wenn sie für die griechischen Künstler Selbstzweck war, so<br />
war ihre Kunst eine reine Kunst, und wenn diese Darstellung der Ideen in Bildern bei ihnen<br />
nur ein Mittel zur Erreichung irgendwelcher Nebenzwecke war, ganz gleichgültig, welche es<br />
waren, so stand sie im Widerspruch zum Ideal der Kunst. Weiter. Wenn sich Belinski darauf<br />
beruft, daß in der neueren Kunst der Inhalt die Form überhaupt überwiegt, so legt er diesem<br />
Gedanken Hegels nicht den Sinn bei, den er bei dem deutschen Denker hatte. Bei diesem<br />
bedeutete er nur, daß in der griechischen Kunst das Schöne das Hauptelement bildete, daß es<br />
aber in der neueren Kunst häufig anderen Elementen den ersten Platz einräumt. Das ist ein<br />
richtiger Gedanke, und wir werden noch darauf zurückkommen. Aber daraus folgt ebenfalls<br />
keineswegs, daß die Kunst in der neueren Gesellschaft eine untergeordnete Rolle spielte oder<br />
spielen muß, daß sie jetzt nicht Selbstzweck sein kann.<br />
Wir wiederholen, Belinski gerät in seinen Beweisen in Verwirrung. Nun, bei Menschen mit<br />
hervorragendem Verstande pflegen manchmal gerade die Irrtümer außerordentlich lehrreich<br />
zu sein. Warum hat sich unser Kritiker geirrt?<br />
Die Frage, ob die Kunst Selbstzweck sein könne, wurde in den verschiedenen historischen<br />
Epochen verschieden gelöst. Nehmen wir meinetwegen Frankreich. Voltaire, Diderot und<br />
überhaupt die sogenannten Enzyklopädisten haben nicht im geringsten daran gezweifelt, daß<br />
die Kunst der „Tugend“ dienen müsse. Um das Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich unter den<br />
1 Wir wollen daran erinnern, daß sein Mozart sagt: „Genie und Übeltat sind zwei unvereinbare Dinge.“<br />
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