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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 18.07.2013<br />

Grundlage, auf die sich Belinski in seinen kritischen Urteilen stützte. Der Dichter denkt in<br />

Bildern, nicht in Syllogismen; während er das Bild klar sieht, sieht er natürlich nicht immer<br />

die darin sich widerspiegelnde Idee ebenso klar. In diesem Sinne kann man sein Schaffen als<br />

unbewußt bezeichnen. In den ersten zwei Perioden seiner Tätigkeit (d. h. vor der Schwärmerei<br />

für die absolute Philosophie Hegels und während dieser Zeit) war Belinski der Ansicht,<br />

das unbewußte Schaffen sei das Hauptmerkmal und die [417] notwendige Voraussetzung<br />

jedes dichterischen Schaffens; später drückte er sich nicht so entschieden aus, aber niemals<br />

hörte er auf, dem unbewußten Schaffen in der Tätigkeit der wahren Künstler große Bedeutung<br />

beizumessen.<br />

„Heutzutage sind viele Leute gebannt durch das Zauberwörtchen ‚Tendenz‘“, schrieb er in<br />

den „Betrachtungen über die russische Literatur des Jahres 1847“; „sie meinen, das sei das<br />

ganze Geheimnis, und begreifen nicht, daß in der Sphäre der Kunst erstens keine Tendenz<br />

einen Pfifferling wert ist ohne Talent und zweitens die Tendenz nicht nur im Kopfe des<br />

Schreibenden liegen muß, sondern vor allem in seinem Herzen, in seinem Blut, daß sie vor<br />

allem Gefühl, Instinkt sein muß und dann erst, wenn nötig (sic!), wohl auch bewußter Gedanke<br />

– daß man für sie, diese Tendenz, ebenso geboren werden muß wie für die Kunst<br />

selbst.“ In den gleichen Betrachtungen bemerkt Belinski, indem er die Naturale Schule gegen<br />

den Vorwurf in Schutz nimmt, sie habe die Literatur mit ordinärem Volk überschwemmt, daß<br />

der Schriftsteller (d. h. der Schriftsteller als Künstler) kein Handwerker sei und sich in der<br />

Auswahl der Gegenstände eines Werkes weder von einem ihm fremden Willen noch auch<br />

von seinem eigenen Gutdünken leiten lassen könne, sondern seinem Talent und seiner Phantasie<br />

treu zu bleiben habe. Wir haben es für notwendig gehalten, diese Ansicht Belinskis hier<br />

festzuhalten, weil unsere Aufklärungsapostel, insbesondere Pissarew, in den sechziger Jahren<br />

jedes Element der Unbewußtheit im künstlerischen Schaffen bestritten haben.<br />

Die Auflehnung gegen die russische Wirklichkeit hat die ästhetischen Grundbegriffe Belinskis<br />

nur in einer Beziehung verändert, nämlich: er begann, jenes Gesetz des ästhetischen Kodex,<br />

nach dem die Idee des Kunstwerkes konkret sein, d. h. den Gegenstand von allen Seiten erfassen<br />

muß, anders zu interpretieren. Was heißt einen Gegenstand von allen Seiten erfassen? In<br />

der versöhnlerischen Epoche bedeutete das bei Belinski, daß das dichterische Werk die Vernünftigkeit<br />

der den Dichter umgebenden Wirklichkeit darstellen muß. Wenn es nun diesen<br />

Zweck nicht erreicht, wenn es uns zu der halben Überzeugung bringt, daß die Wirklichkeit<br />

nicht durchweg vernünftig ist, so bedeutet das, es ist nur eine Seite des Gegenstandes dargestellt,<br />

d. h., es ist nicht künstlerisch. Diese Interpretation ist zu eng und daher ganz unrichtig.<br />

Die Idee der Eifersucht umfaßt durchaus nicht alle zwischen Mann und Frau in der zivilisierten<br />

Gesellschaft bestehenden Beziehungen, aber das hat Shakespeare nicht gehindert, sie künstlerisch<br />

vollendet darzustellen. Eine konkrete Idee, die entschieden alle Seiten des gesellschaftlichen<br />

Lebens umfaßt, kann es nicht geben: das Leben ist dazu zu kompliziert. Damit die Idee<br />

konkret sei, genügt es, daß sie irgendeine beliebige Erscheinung vollständig [418] erfaßt. Hätte<br />

Hugo den Einfall gehabt, den „Othello“ zu schreiben – er hätte uns wahrscheinlich ein steifes,<br />

unkünstlerisches Drama geliefert. Weshalb? Weil er die Idee der Eifersucht so aufgefaßt hätte,<br />

wie er alles auffaßte – abstrakt, einseitig. Die Kritik hätte ihm mit vollem Recht einen Vorwurf<br />

daraus machen können; aber sie hätte darin ganz und gar nicht recht gehabt, es ihm als Schuld<br />

anzurechnen, daß er einen unglücklichen pathologischen Einzelfall von Liebesbeziehungen<br />

dargestellt und nicht eine allseitige Darstellung geliefert habe. Nachdem Belinski den absoluten<br />

Standpunkt aufgegeben hatte, begriff er, wie unrichtig seine Auffassung des von uns angeführten<br />

Gesetzes gewesen war, aber er fuhr fort, dem Gesetze selbst wie auch seinem ganzen ästhetischen<br />

Kodex dieselbe große Bedeutung beizulegen wie früher. Wenn nun die Auflehnung<br />

gegen die Wirklichkeit an den eigentlich ästhetischen Auffassungen Belinskis wenig geändert<br />

hat, so hat sie doch in seinen gesellschaftlichen Begriffen einen gänzlichen Umschwung her-<br />

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