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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 18.07.2013<br />

der von ihm dargestellten Epoche lösen, und dazu muß man das historische Labyrinth der<br />

Ereignisse, durch das die Menschheit auf ihre große Bestimmung zuging: die Verkörperung<br />

der ewigen Vernunft zu sein, mit der Fackel der Philosophie erleuchten, muß man philosophisch<br />

den Breiten- und Längengrad jener Stelle des [408] Weges bestimmen, an der der<br />

Dichter die Menschheit in ihrer historischen Entwicklung antraf. Alle Hinweise auf Ereignisse,<br />

die ganze Analyse der Sitten und Beziehungen der Gesellschaft zum Dichter und zu sich<br />

selbst erklären sonst einfach gar nichts.“<br />

Die Leser wissen schon, daß Belinski früher eine ganz unrichtige Einstellung zur französischen<br />

Literatur hatte. Corneille und Racine waren für ihn poetische Ungeheuer. 1 Nachdem er<br />

den neuen – dialektischen – Standpunkt eingenommen hatte, war seine Stellung zu diesen<br />

Schriftstellern bereits eine andere. „Corneilles Tragödien sind zwar richtige Mißgeburten in<br />

ihrer klassischen Form“, sagt er, „und die Theoretiker sind vollauf berechtigt, gegen diese<br />

chinesische Form zu Felde zu ziehen, zu der sich das erhabene und mächtige Genie Corneilles<br />

infolge des gewaltsamen Einflusses Richelieus, der auch in der Literatur erster Minister<br />

sein wollte, herabgelassen hat. Aber die Theoretiker würden sich gewaltig irren, wenn sie<br />

über der monströsen pseudoklassischen Form der Tragödien Corneilles die ungeheure innere<br />

Kraft ihres Pathos nicht sehen wollten.“ Racine erscheint ihm immer noch als affektiert und<br />

steif, aber er bemerkt, daß dieser affektierte und steife Racine im alten Griechenland ein leidenschaftlicher<br />

und tiefsinniger Euripides gewesen wäre. Überhaupt wird Belinski mehr und<br />

mehr von der Überzeugung durchdrungen, daß die Entwicklung des Talents völlig durch den<br />

Einfluß des umgebenden Milieus bestimmt wird. Deshalb wird seine eigene Kritik mehr und<br />

mehr zu einer historischen. Das ist sie zum Beispiel in den Artikeln über Puschkin, wo die<br />

scharfsinnige historische Anschauung Belinskis allerdings durch den Einfluß eines anderen,<br />

ebenfalls sehr wichtigen Elements seiner Kritik, über das wir weiter unten sprechen werden,<br />

verdunkelt wird.<br />

IV<br />

Alle diese Ansichten Belinskis sind das reinste Hegelianertum von seiner dialektischen Seite<br />

her, und es gehört wahrhaftig eine gründliche Unkenntnis der Geschichte der neueren Philosophie<br />

dazu, das nicht zu bemerken. Natürlich konnte der Übergang vom absoluten zum dialektischen<br />

Standpunkt nicht ganz ohne Einfluß auf einige ästhetische Ansichten Belinskis<br />

bleiben. Im allgemeinen haben sich diese Ansichten aber nicht geändert. Nehmen wir meinetwegen<br />

„Verstand schafft Leiden“. In einem Brief an Botkin vom 10./11. Dezember 1840<br />

drückt Belinski sein lebhaft-[409]testes Bedauern darüber aus, daß er sich schlecht über diese<br />

Komödie geäußert habe, die er „vom künstlerischen Standpunkt aus verurteilt“ und von der er<br />

hochmütig und mit Geringschätzung gesprochen hatte, ohne zu ahnen, daß es ein überaus<br />

hochstehendes humanitäres Werk war, ein energischer (und noch dazu der erste) Protest gegen<br />

die Entsetzlichkeit der russischen Wirklichkeit, gegen die Bestechlichkeit der Beamten,<br />

gegen die Ausschweifungen der Feudalherren, gegen ... die höhere Gesellschaft, gegen die<br />

Dummheit, freiwillige Knechtschaft usf. usf. usf. 2 Diese scharfen und aufrichtigen Worte der<br />

Selbstanklage gereichen Belinski zu großer Ehre. Aber sie bieten keine Gewähr dafür, daß er<br />

sein eigenes Urteil über die Komödie Gribojedows richtig einschätzte. Deshalb wollen wir in<br />

Erinnerung rufen, was er darüber in seinem großen Artikel sagt, den er noch in der Epoche<br />

des Friedens mit den herrschenden Verhältnissen geschrieben hat.<br />

Er sagte, „Verstand schafft Leiden“ sei eine außergewöhnliche Erscheinung, das Werk eines<br />

1 Das erinnert an die extremen Urteile der „wilden“ (d. h. der romantischen) Schule, für deren leidenschaftlichste<br />

Vertreter Racine nichts weiter war als ein polisson [dummer Bengel].<br />

2 Pypin, „Belinski“ usw., Bd. II, S. 77/78.<br />

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