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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 18.07.2013<br />

menschliche Initiative im Vordergrund und ist weniger den allgemeinen Motiven unterworfen“.<br />

1<br />

Den einzige Beweis, auf den Sainte-Beuve diesen Gedanken stützte, besteht darin, daß sich<br />

der Künstler, der irgendwo einen versteckten Winkel [402] (un coin oublié) gefunden und<br />

sich dort in die Einsamkeit zurückgezogen hat, der um ihn herum vor sich gehenden gesellschaftlichen<br />

Bewegung entziehen kann. 2 Das ist ein sehr schwacher Beweis. Die Philosophen<br />

und Theologen können sich ebenfalls in „versteckte Winkel“ zurückziehen, aber ihre „Initiative“<br />

kann sich dabei nicht der Unterordnung unter die allgemeinen Motive entziehen.<br />

Weshalb ist das nun so?<br />

Das wußte Sainte-Beuve, wie man sieht, selbst nicht, und er hat sich darüber auch selten Gedanken<br />

gemacht. Der Widerspruch zwischen der persönlichen Initiative und den allgemeinen<br />

Gesetzen blieb für ihn ungelöst. 3 In seinen literarischen Charakteristiken („Portraits“) richtete<br />

er die Hauptaufmerksamkeit auf eine Seite diesen Antinomie: auf die Initiative, die in seinen<br />

Vorstellung hauptsächlich mit dem persönlichen Charakter und mit dem Privatleben des<br />

Schriftstellers verbunden war. Deshalb sind seine „Portraits“ nun von dieser psychologischen<br />

Seite her gut, aber die historische Bedeutung der Schriftsteller wird darin recht schlecht erklärt.<br />

Aber, wir wiederholen, der Fehler Sainte-Beuves hatte seine Ursache nicht darin, daß er<br />

sich auf Tatsachen stützte, sondern darin, daß ihm die philosophische Bedeutung der Tatsachen<br />

nicht ganz klar war. Als Schüler Hegels nahm Belinski nicht Anstoß an der Antinomie,<br />

die Sainte-Beuve irremachte; er war überzeugt, daß das Allgemeine dem Individuellen nicht<br />

widerspricht und daß der Freiheitsbegriff mit dem Begriff der Notwendigkeit völlig vereinbar<br />

ist. In diesem Falle zeigten sich seine Ansichten von ihrer starken Seite. Als er aber sagte, die<br />

Kenntnis der politischen Geschichte Griechenlands und des Verhältnisses der griechischen<br />

Tragiker zu ihren Mitbürgern (d. h. die Kenntnis des gesellschaftlichen Lebens der Griechen)<br />

sei zum Verständnis der griechischen Tragödie nicht wichtig und es genüge, sich die Bedeutung<br />

des griechischen Volkes im absoluten Leben der Menschheit klarzumachen, trat die<br />

schwache Seite seiner Ansichten zutage. Der absolute Idealismus erklärte die historische<br />

Entwicklung der Menschheit durch die logischen Entwicklungsgesetze der Idee. Die Geschichte<br />

war für ihn etwas wie eine angewandte Logik. Hegel behandelte die Ereignisse und<br />

Erscheinungen des gesellschaftlich-historischen Lebens mit besonders großer Aufmerksamkeit<br />

und legte nicht selten sogar in speziellen Fragen der Geschichte und der politischen Ökonomie<br />

erstaunlichen Scharfsinn an den Tag. Aber sein [403] idealistischer Standpunkt hinderte<br />

ihn, von der ganzen Kraft seiner eigenen Methode Gebrauch zu machen. Und was seine<br />

Anhänger betrifft, so führte sie die Auffassung der Geschichte als angewandter Logik manchmal<br />

zu einer recht geringschätzigen Haltung gegenüber den historischen „Kleinigkeiten“.<br />

Eines der Beispiele dieser geringschätzigen Einstellung brachte Belinski, als er dachte, daß<br />

„die Bedeutung des griechischen Volkes im absoluten Leben der Menschheit“ ohne das<br />

Hilfsmittel eines eingehenden Studiums der sozialen und politischen Geschichte Griechenlands<br />

klargemacht werden könne. Hier würde Hegel selbst sagen, daß er sich irrt, und ihn auf<br />

seine „Philosophie der Geschichte“ verweisen.<br />

Überhaupt mißbrauchte Belinski in der Epoche seiner versöhnlerischen Haltung nicht selten<br />

die apriorischen logischen Konstruktionen und ließ die Tatsachen außer acht. Das ist auch<br />

1 [Sainte-Beuve, „Portraits littéraires“, t. I, Paris 1868, p. 6/7.]<br />

2 „Portraits littéraires“ (Ausg. Garnier Frères), Bd. I, S. 6/7.<br />

3 Er hat sich damit gleich zu Beginn seiner literarischen Tätigkeit befaßt, wie man aus seinen Artikeln ersehen<br />

kann, die noch der Zeit der Jahre 1825 und 1826 angehören (siehe „Premiers Lundis“, Bd. I, Artikel anläßlich der<br />

Werke von Thiers und Mignet über die Geschichte der französischen Revolution). Damals neigte Sainte-Beuve<br />

dazu, der „persönlichen Initiative“ nicht nur bei Dichtem und Künstlern, sondern auch bei Politikern übertriebene<br />

Bedeutung beizulegen.<br />

7

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