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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 18.07.2013<br />

III<br />

Belinskis Stellungnahme zur französischen historischen Kritik ist unbegründet. In der<br />

Zeit, auf die sich der von uns untersuchte Artikel bezieht, war der namhafteste Vertreter<br />

dieser Kritik Sainte-Beuve. Kann man sagen, Sainte-Beuve habe die Kunstgesetze nicht<br />

anerkannt und die künstlerischen Werte der Werke nicht beachtet? Sicherlich nicht. In<br />

seinen literarischen Ansichten stand Sainte-Beuve in vielen Beziehungen den Ansichten<br />

Belinskis nahe. Für ihn, wie auch für unseren Kritiker, war die Literatur der Ausdruck des<br />

Volksbewußtseins. 1 Aber Sainte-Beuve war kein Anhänger des absoluten Idealismus; er<br />

suchte die letzten Ursachen der literarischen Bewegungen nicht in den immanenten Gesetzen<br />

der Entwicklung der absoluten Idee, sondern in den gesellschaftlichen Verhältnissen.<br />

„Bei jeder großen gesellschaftlichen und politischen Um-[401]wälzung“, sagte er,<br />

„verändert sich auch die Kunst, die zu den wichtigsten Seiten des gesellschaftlichen Lebens<br />

gehört; in ihn vollzieht sich ebenfalls eine Umwälzung, die nicht ihr inneres Prinzip<br />

betrifft – dieses Prinzip bleibt immer unveränderlich –‚ sondern die Bedingungen ihrer<br />

Existenz, ihre Ausdrucksmittel, ihre Beziehungen zu den sie umgebenden Gegenständen<br />

und Erscheinungen, die Empfindungen und Ideen, die ihr ihren Stempel aufdrücken, wie<br />

auch die Quellen der künstlerischen Inspiration.“ 2 Nachdem sich Sainte-Beuve auf diesen<br />

Standpunkt gestellt hatte, war er natürlich gezwungen, die historischen Bedingungen der<br />

Existenz der Künstler zu berücksichtigen. Er mußte wissen, was in Griechenland unter<br />

Aeschylos und Sophokles geschah und in welchen Beziehungen zu ihrer Regierung und<br />

zu ihren Mitbürgern sich diese Tragiker befanden. Er konnte die politischen Ereignisse<br />

nicht als „Kleinigkeiten“ betrachten. Und das war für seine Kritik nur von Vorteil. Allerdings<br />

legte er dem persönlichen Charakter der Schriftsteller und den äußeren Umständen<br />

ihres Privatlebens eine übertriebene Bedeutung bei. Das war ein unzweifelhafter und sehr<br />

bedeutender Mangel seiner Kritik. Aber dieser Mangel wurde durchaus nicht dadurch<br />

hervorgerufen, daß Sainte-Beuve „aus den Tatsachen seine Prinzipien und Beweise ableitete“,<br />

sondern dadurch, daß er aus den Tatsachen nicht immer das ableitete, was aus ihnen<br />

folgt. Im April 1829, als er daranging, die Charakteristik Boileaus abzufassen, schrieb er:<br />

„Heute ist in alle Zweige der Geschichtswissenschaft eine strenge und philosophische<br />

Methode eingedrungen. Wenn es das Leben, die Taten, die Werke eines berühmten Mannes<br />

zu beurteilen gilt, beginnt man damit, die Zeit vor ihm, die Gesellschaft, aus deren<br />

Schoß er hervorgegangen, und die allgemeine Geistesströmung eingehend zu untersuchen<br />

und zu beschreiben; man sichtet und ordnet zunächst die große Szenerie, vor der die Persönlichkeit<br />

ihre Rolle spielen soll... Diese Methode herrscht nirgends mit so ungeteilten<br />

und auffallender Augenscheinlichkeit, als wo sie Staatsmänner, Eroberer, Theologen und<br />

Philosophen wiedererweckt; wo sie sich jedoch für Dichter und Künstler verwendet, die<br />

häufig zurückgezogen und einsam leben, werden die Ausnahmen häufigen, und es heißt<br />

achtgeben.“ Auf dem Gebiete der künstlerischen und literarischen Tätigkeit „steht die<br />

1 Wir wollen hier en passant [im Vorbeigehen, beiläufig] auf eine recht bezeichnende Einzelheit hinweisen. In<br />

seinen „Literarischen Träumereien“ sagt Belinski, in Frankreich sei die Literatur stets ein getreues Spiegelbild der<br />

höheren Gesellschaft gewesen und habe von der Volksmasse nichts gewußt. Nicht so in anderen Ländern; dort<br />

habe die Literatur immer den Geist des Volkes zum Ausdruck gebracht, „denn es gibt kein anderes Volk, dessen<br />

Leben vorwiegend in der höheren Gesellschaft in Erscheinung getreten ist, und man kann wohl behaupten, daß<br />

Frankreich in dieser Hinsicht die einzige Ausnahme bildet“. Es erübrigt sich, zu beweisen, daß diese Ansicht über<br />

die französische Literatur äußerst einseitig und daher gänzlich unrichtig ist. Leider haben wir keine Unterlagen, um<br />

beurteilen zu können, welche Stellung Belinski zu dieser Literatur in der Periode seiner Begeisterung für die Philosophie<br />

Fichtes einnahm. Aber es ist offensichtlich, daß seine Stellung hierzu bereits zu Beginn seiner literarischen<br />

Tätigkeit, d. h. lange vor seiner Begeisterung für Hegel, unbegründet war.<br />

2 Siehe den Artikel „Espoir et vœu du mouvement littéraire et poétique après la révolution de 1830“, veröffentlicht<br />

in der Zeitschrift „Globe“ des gleichen Jahres und abgedruckt im I. Band der „Premiers Lundis“.<br />

6

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