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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 18.07.2013 Die philosophische Kritik muß unnachsichtig gegen Werke sein, die überhaupt keine künstlerischen Werte besitzen, und sehr teilnahmsvoll gegen solche, denen es nur teilweise an ihnen mangelt. Zu dieser zweiten Gattung von Werken gehören zum Beispiel die besten Werke Schillers, [399] „dieses sonderbaren Halbkünstlers und Halbphilosophen“. Hierzu rechnet Belinski auch „Juri Miloslawski“ 1 ‚ dem es, nach seinen Worten, nicht an großen dichterischen, wenn nicht gar künstlerischen Werten fehlt und der überdies große historische Bedeutung besitzt. Die Frage nach der historischen Bedeutung eines Kunstwerkes ist für die philosophische Kritik äußerst wichtig. Die Skulpturen des althellenischen oder des hieratischen Stils haben als Kunstwerke keinen Wert, aber sie sind wichtig in historischem Sinne als Übergang von der symbolischen Kunst des Ostens zur griechischen Kunst. Nach der Meinung Belinskis, die, wie er bemerkt, keineswegs der Idee Retschers widerspricht, „gibt es auch solche Werke, die wichtig sein können als Momente in der Entwicklung nicht der Kunst überhaupt, sondern der Kunst bei irgendeinem Volke und außerdem als Momente der Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens bei einem Volke“. Von diesem Gesichtspunkt aus gewinnen „Der Landjunker“ und der „Brigadier“ Fonwisins und die „Intrigen“ von Kapnist ebenso große Bedeutung wie derartige Erscheinungen wie Kantemir, Sumarokow, Cheraskow, Bogdanowitsch und andere. Vom gleichen Gesichtspunkt aus gesehen, erhält auch die französische historische Kritik ihren relativen Wert. Ihr Hauptmangel, der zugleich auch ihren Hauptunterschied zur deutschen Kritik bildet, besteht darin, daß sie die Gesetze des Schönen nicht anerkennt und die künstlerischen Werte eines Werkes unbeachtet läßt. „Sie nimmt ein Werk, als habe sie schon im voraus ausgemacht, es als ein wirkliches Kunstwerk zu betrachten, und sucht dann an ihm nach dem Stempel seiner Zeit nicht als eines historischen Moments in der absoluten Entwicklung der Menschheit oder auch irgendeines bestimmten Volkes, sondern als eines bürgerlichen und politischen Moments.“ „Sie untersucht den persönlichen Charakter des Schriftstellers, seine äußeren Lebensumstände, seine gesellschaftliche Stellung, den Einfluß der verschiedenen Seiten des ihn umgebenden gesellschaftlichen Lebens auf ihn und sucht auf der Grundlage alles dessen zu erklären, warum er gerade so geschrieben hat und nicht anders.“ Belinski sagt, das sei nicht die Kritik eines schöngeistigen Werkes, sondern ein Kommentar dazu, der einzig und allein in dieser seiner Eigenschaft als Kommentar größeren oder geringeren Wert besitze. Er glaubt, daß Einzelheiten aus dem Leben des Dichters sein Schaffen keineswegs erklären. Uns sei über das Leben Shakespeares fast nichts bekannt, aber das hindere uns nicht, seine Werke klar zu verstehen. Wir brauchten gar nicht zu wissen, in welchem Verhältnis zu ihrer Regierung und zu ihren Mitbürgern Aeschylos und Sophokles gestanden hätten und was zu ihrer Zeit in Griechenland geschehen sei. „Um ihre Tragödien zu verstehen, müssen [400] wir die Bedeutung des griechischen Volkes im absoluten Leben der Menschheit kennen; wir müssen wissen, daß die Griechen einen der herrlichsten Momente des lebendigen, konkreten Bewußtseins der Wahrheit in der Kunst zum Ausdruck gebracht haben. Die politischen Ereignisse und Kleinigkeiten gehen uns nichts an.“ An den Kunstwerken erklärt die französische historische Kritik einfach nichts, aber sie hat ihren Wert da, wo es sich um Werke handelt, die, wie zum Beispiel die Werke Voltaires, nicht künstlerische, sondern nur historische Bedeutung besitzen. Freilich ist sie auch hier nicht imstande, die Frage völlig erschöpfend zu behandeln, aber sie kann als sehr nützliches Element einbezogen werden „in die echte Kritik, die, welchen Charakter sie auch an sich haben mag, ein beständiges Bestreben offenbart, aus dem Allgemeinen das Besondere zu erklären, und durch die Tatsachen die Wirklichkeit ihrer Prinzipien zu bestätigen und nicht aus den Tatsachen ihre Prinzipien und Beweise abzuleiten“. 1 [Roman von M. Sagoskin.] 5

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 18.07.2013 III Belinskis Stellungnahme zur französischen historischen Kritik ist unbegründet. In der Zeit, auf die sich der von uns untersuchte Artikel bezieht, war der namhafteste Vertreter dieser Kritik Sainte-Beuve. Kann man sagen, Sainte-Beuve habe die Kunstgesetze nicht anerkannt und die künstlerischen Werte der Werke nicht beachtet? Sicherlich nicht. In seinen literarischen Ansichten stand Sainte-Beuve in vielen Beziehungen den Ansichten Belinskis nahe. Für ihn, wie auch für unseren Kritiker, war die Literatur der Ausdruck des Volksbewußtseins. 1 Aber Sainte-Beuve war kein Anhänger des absoluten Idealismus; er suchte die letzten Ursachen der literarischen Bewegungen nicht in den immanenten Gesetzen der Entwicklung der absoluten Idee, sondern in den gesellschaftlichen Verhältnissen. „Bei jeder großen gesellschaftlichen und politischen Um-[401]wälzung“, sagte er, „verändert sich auch die Kunst, die zu den wichtigsten Seiten des gesellschaftlichen Lebens gehört; in ihn vollzieht sich ebenfalls eine Umwälzung, die nicht ihr inneres Prinzip betrifft – dieses Prinzip bleibt immer unveränderlich –‚ sondern die Bedingungen ihrer Existenz, ihre Ausdrucksmittel, ihre Beziehungen zu den sie umgebenden Gegenständen und Erscheinungen, die Empfindungen und Ideen, die ihr ihren Stempel aufdrücken, wie auch die Quellen der künstlerischen Inspiration.“ 2 Nachdem sich Sainte-Beuve auf diesen Standpunkt gestellt hatte, war er natürlich gezwungen, die historischen Bedingungen der Existenz der Künstler zu berücksichtigen. Er mußte wissen, was in Griechenland unter Aeschylos und Sophokles geschah und in welchen Beziehungen zu ihrer Regierung und zu ihren Mitbürgern sich diese Tragiker befanden. Er konnte die politischen Ereignisse nicht als „Kleinigkeiten“ betrachten. Und das war für seine Kritik nur von Vorteil. Allerdings legte er dem persönlichen Charakter der Schriftsteller und den äußeren Umständen ihres Privatlebens eine übertriebene Bedeutung bei. Das war ein unzweifelhafter und sehr bedeutender Mangel seiner Kritik. Aber dieser Mangel wurde durchaus nicht dadurch hervorgerufen, daß Sainte-Beuve „aus den Tatsachen seine Prinzipien und Beweise ableitete“, sondern dadurch, daß er aus den Tatsachen nicht immer das ableitete, was aus ihnen folgt. Im April 1829, als er daranging, die Charakteristik Boileaus abzufassen, schrieb er: „Heute ist in alle Zweige der Geschichtswissenschaft eine strenge und philosophische Methode eingedrungen. Wenn es das Leben, die Taten, die Werke eines berühmten Mannes zu beurteilen gilt, beginnt man damit, die Zeit vor ihm, die Gesellschaft, aus deren Schoß er hervorgegangen, und die allgemeine Geistesströmung eingehend zu untersuchen und zu beschreiben; man sichtet und ordnet zunächst die große Szenerie, vor der die Persönlichkeit ihre Rolle spielen soll... Diese Methode herrscht nirgends mit so ungeteilten und auffallender Augenscheinlichkeit, als wo sie Staatsmänner, Eroberer, Theologen und Philosophen wiedererweckt; wo sie sich jedoch für Dichter und Künstler verwendet, die häufig zurückgezogen und einsam leben, werden die Ausnahmen häufigen, und es heißt achtgeben.“ Auf dem Gebiete der künstlerischen und literarischen Tätigkeit „steht die 1 Wir wollen hier en passant [im Vorbeigehen, beiläufig] auf eine recht bezeichnende Einzelheit hinweisen. In seinen „Literarischen Träumereien“ sagt Belinski, in Frankreich sei die Literatur stets ein getreues Spiegelbild der höheren Gesellschaft gewesen und habe von der Volksmasse nichts gewußt. Nicht so in anderen Ländern; dort habe die Literatur immer den Geist des Volkes zum Ausdruck gebracht, „denn es gibt kein anderes Volk, dessen Leben vorwiegend in der höheren Gesellschaft in Erscheinung getreten ist, und man kann wohl behaupten, daß Frankreich in dieser Hinsicht die einzige Ausnahme bildet“. Es erübrigt sich, zu beweisen, daß diese Ansicht über die französische Literatur äußerst einseitig und daher gänzlich unrichtig ist. Leider haben wir keine Unterlagen, um beurteilen zu können, welche Stellung Belinski zu dieser Literatur in der Periode seiner Begeisterung für die Philosophie Fichtes einnahm. Aber es ist offensichtlich, daß seine Stellung hierzu bereits zu Beginn seiner literarischen Tätigkeit, d. h. lange vor seiner Begeisterung für Hegel, unbegründet war. 2 Siehe den Artikel „Espoir et vœu du mouvement littéraire et poétique après la révolution de 1830“, veröffentlicht in der Zeitschrift „Globe“ des gleichen Jahres und abgedruckt im I. Band der „Premiers Lundis“. 6

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Die philosophische Kritik muß unnachsichtig gegen Werke sein, die überhaupt keine künstlerischen<br />

Werte besitzen, und sehr teilnahmsvoll gegen solche, denen es nur teilweise an ihnen<br />

mangelt. Zu dieser zweiten Gattung von Werken gehören zum Beispiel die besten Werke<br />

Schillers, [399] „dieses sonderbaren Halbkünstlers und Halbphilosophen“. Hierzu rechnet<br />

Belinski auch „Juri Miloslawski“ 1 ‚ dem es, nach seinen Worten, nicht an großen dichterischen,<br />

wenn nicht gar künstlerischen Werten fehlt und der überdies große historische Bedeutung<br />

besitzt.<br />

Die Frage nach der historischen Bedeutung eines Kunstwerkes ist für die philosophische Kritik<br />

äußerst wichtig. Die Skulpturen des althellenischen oder des hieratischen Stils haben als<br />

Kunstwerke keinen Wert, aber sie sind wichtig in historischem Sinne als Übergang von der<br />

symbolischen Kunst des Ostens zur griechischen Kunst. Nach der Meinung Belinskis, die,<br />

wie er bemerkt, keineswegs der Idee Retschers widerspricht, „gibt es auch solche Werke, die<br />

wichtig sein können als Momente in der Entwicklung nicht der Kunst überhaupt, sondern der<br />

Kunst bei irgendeinem Volke und außerdem als Momente der Entwicklung des gesellschaftlichen<br />

Lebens bei einem Volke“. Von diesem Gesichtspunkt aus gewinnen „Der Landjunker“<br />

und der „Brigadier“ Fonwisins und die „Intrigen“ von Kapnist ebenso große Bedeutung wie<br />

derartige Erscheinungen wie Kantemir, Sumarokow, Cheraskow, Bogdanowitsch und andere.<br />

Vom gleichen Gesichtspunkt aus gesehen, erhält auch die französische historische Kritik ihren<br />

relativen Wert. Ihr Hauptmangel, der zugleich auch ihren Hauptunterschied zur deutschen<br />

Kritik bildet, besteht darin, daß sie die Gesetze des Schönen nicht anerkennt und die künstlerischen<br />

Werte eines Werkes unbeachtet läßt. „Sie nimmt ein Werk, als habe sie schon im voraus<br />

ausgemacht, es als ein wirkliches Kunstwerk zu betrachten, und sucht dann an ihm nach<br />

dem Stempel seiner Zeit nicht als eines historischen Moments in der absoluten Entwicklung<br />

der Menschheit oder auch irgendeines bestimmten Volkes, sondern als eines bürgerlichen und<br />

politischen Moments.“ „Sie untersucht den persönlichen Charakter des Schriftstellers, seine<br />

äußeren Lebensumstände, seine gesellschaftliche Stellung, den Einfluß der verschiedenen<br />

Seiten des ihn umgebenden gesellschaftlichen Lebens auf ihn und sucht auf der Grundlage<br />

alles dessen zu erklären, warum er gerade so geschrieben hat und nicht anders.“ Belinski sagt,<br />

das sei nicht die Kritik eines schöngeistigen Werkes, sondern ein Kommentar dazu, der einzig<br />

und allein in dieser seiner Eigenschaft als Kommentar größeren oder geringeren Wert<br />

besitze. Er glaubt, daß Einzelheiten aus dem Leben des Dichters sein Schaffen keineswegs<br />

erklären. Uns sei über das Leben Shakespeares fast nichts bekannt, aber das hindere uns<br />

nicht, seine Werke klar zu verstehen. Wir brauchten gar nicht zu wissen, in welchem Verhältnis<br />

zu ihrer Regierung und zu ihren Mitbürgern Aeschylos und Sophokles gestanden hätten<br />

und was zu ihrer Zeit in Griechenland geschehen sei. „Um ihre Tragödien zu verstehen,<br />

müssen [400] wir die Bedeutung des griechischen Volkes im absoluten Leben der Menschheit<br />

kennen; wir müssen wissen, daß die Griechen einen der herrlichsten Momente des lebendigen,<br />

konkreten Bewußtseins der Wahrheit in der Kunst zum Ausdruck gebracht haben. Die<br />

politischen Ereignisse und Kleinigkeiten gehen uns nichts an.“ An den Kunstwerken erklärt<br />

die französische historische Kritik einfach nichts, aber sie hat ihren Wert da, wo es sich um<br />

Werke handelt, die, wie zum Beispiel die Werke Voltaires, nicht künstlerische, sondern nur<br />

historische Bedeutung besitzen. Freilich ist sie auch hier nicht imstande, die Frage völlig erschöpfend<br />

zu behandeln, aber sie kann als sehr nützliches Element einbezogen werden „in die<br />

echte Kritik, die, welchen Charakter sie auch an sich haben mag, ein beständiges Bestreben<br />

offenbart, aus dem Allgemeinen das Besondere zu erklären, und durch die Tatsachen die<br />

Wirklichkeit ihrer Prinzipien zu bestätigen und nicht aus den Tatsachen ihre Prinzipien und<br />

Beweise abzuleiten“.<br />

1 [Roman von M. Sagoskin.]<br />

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