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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 08.07.2013<br />

Es schändete den Adligen, „wie ein Bürgersmann“ zu sprechen. Also unterschied sich die<br />

Ausdrucksweise auch entsprechend der sozialen Struktur. Und diese Tendenz mußte unvermeidlich<br />

in der Literatur und in der Kunst zutage treten. Hippolyte Taine hat schon bewiesen,<br />

wie die französische Tragödie aus den Sitten und dem Geschmack der französischen Aristokratie<br />

des 17. Jahrhunderts geboren wurde. 1 Dieser Geschmack und diese Sitten hatten einen<br />

derart großen Einfluß nicht nur auf die Literatur Frankreichs, sondern auch Englands, daß<br />

Shakespeare in der Epoche der englischen Restauration (1660-1688) bei der Leserschaft in<br />

tiefe Ungnade fiel. Das Stück „Romeo und Julia“ galt 2* [damals als schlecht].<br />

Zur gleichen Zeit faßte auch die Sitte, auf der Bühne nur noch Königinnen und Könige, Helden<br />

und Prinzen zu zeigen, immer mehr Fuß, und diese sprachen über nicht unwichtigere<br />

Dinge als über den Besitz der Krone und die Niederwerfung fremder Reiche. Ähnlich der<br />

Molièreschen Madelon fürchtete man sich, als Bürgersmann zu erscheinen. Auf der Bühne<br />

verwandelten sich die Helden selbst der fernsten Zeit des Altertums in französische Marquis:<br />

noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts brachte man Caesar in einer viereckigen Perücke auf<br />

die Bühne, und Odysseus <strong>erschien</strong> ganz mit Puder bestäubt zwischen den Wellen. „Voltaire<br />

über Hamlet“ 3* : „Stellen Sie sich, meine Herren, Ludwig XIV. in seinem Spiegelsaale vor,<br />

umgeben von dem glänzenden Hof, und stellen Sie sich weiter vor, ein in Lumpen gehüllter<br />

Hanswurst zwängt sich durch die Menge von Helden hindurch, durch all diese großen Männer<br />

und schönen Frauen, die die Hofgesellschaft bilden; er macht ihnen den Vorschlag, Corneille,<br />

Racine und Molière fahrenzulassen für den Hanswurst, der einen Schimmer von Talent<br />

hat, aber Faxen macht? Was meinen Sie? Wie würde man einen solchen Hanswurst empfangen?“<br />

Reaktion. Die weinerliche oder sentimentale Komödie (la comédie larmoyante) – ein Genre<br />

zwischen Komödie und Tragödie, das Privat-[40]personen, tugendhafte oder fast tugendhafte,<br />

in ernsten, feierlichen, bisweilen pathetischen Handlungen zeigt, das uns zur Tugendhaftigkeit<br />

anregen soll, und uns, durch den Anblick des Unglücks gerührt, dem Triumph der Tugend<br />

Beifall zollen läßt. Dieses Genre der Komödie führte La Chaussee in Frankreich ein,<br />

aber entstanden ist es in England. Die unbegrenzte Zügellosigkeit in der Literatur und besonders<br />

im Theater des Zeitalters der Restauration rief am Ende des 17. Jahrhunderts eine Reaktion<br />

hervor, die durch die politischen Ereignisse unterstützt wurde. Der Geschmack des<br />

Publikums drängte den Schriftsteller zu einer übermäßigen Tugendhaftigkeit. Als erster eröffnete<br />

den Kreuzzug gegen die zynische Sittenlosigkeit des Theaters der mittelmäßige Dichter<br />

Blackmore. Aber den entscheidenden Schlag versetzte ihr Jeremy Collier, und ihm folgte<br />

William Lillo („Fatal curiosity“, 1737), wo zwei Greise...<br />

So wird die Kunst in der primitiven, mehr oder weniger kommunistischen Gesellschaft dem<br />

unmittelbaren Einfluß der ökonomischen Lage (de la situation économique) und dem Zustand<br />

der Produktivkräfte unterworfen. In der zivilisierten Gesellschaft wird die Entwicklung der<br />

Künste durch den Klassenkampf bestimmt. Der Klassenkampf wird zwar durch die ökonomische<br />

Entwicklung bestimmt, aber der Einfluß der ökonomischen Struktur ist auf jeden Fall<br />

ein indirekter.<br />

1 „Histoire de la littérature anglaise“, Bd. II, S. 508-512. [Vergleiche auch das Zitat S. 174.]<br />

2* Hier bricht der Text des Aufsatzes ab. Dieser Satz ist zu Ende geführt nach dem Text der „Briefe ohne Adresse“<br />

(Brief 1), wo Plechanow die Würdigung Shakespeares zur Zeit der englischen Restauration (1660-1688)<br />

eingehender behandelt.<br />

3* Plechanow hat die Äußerungen Voltaires über Hamlet nicht angeführt. Die Redaktion des Sammelbandes<br />

„Die Gruppe ‚Befreiung der Arbeit‘“ hat den Text ergänzt durch das Zitat aus Plechanows Aufsatz „Die französische<br />

dramatische Literatur und die französische Malerei des 18. Jahrhunderts vom Standpunkt der Soziologie.“<br />

Hier ist nicht das ganze Zitat angeführt, sondern nur sein Schluß. Vollständig steht es in dem genannten<br />

Aufsatz.<br />

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