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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 18.07.2013<br />

ein Werk seiner äußeren Lebensumstände.“ Der französischen Kritik stellt er die deutsche<br />

philosophische Kritik gegenüber. Was ist die philosophische Kritik? Belinski beantwortet<br />

diese Frage mit einer Darlegung der Ansichten Retschers, dessen Artikel über die Kritik kurz<br />

vorher im „Moskowski Nabljudatel“ gedruckt worden war.<br />

Man darf nicht vergessen, daß wir es mit einem Idealisten zu tun haben, für den alles, was<br />

existiert: die „ganze unendliche schöne Gotteswelt“, nur eine Verkörperung der absoluten<br />

Idee ist, die sich in zahllosen Formen als das „erhabene Schauspiel der absoluten Einheit in<br />

der unendlichen Mannigfaltigkeit“ offenbart. Vom Standpunkt dieses Idealisten bedeutet die<br />

Wahrheit erkennen die absolute Idee erkennen, die das Wesen aller Erscheinungen bildet, und<br />

die absolute Idee erkennen heißt die Gesetze ihrer Selbstentwicklung entdecken. „Die Entdeckung<br />

dieser Gesetze ist das Werk der Vernunft, die in ihnen ihre eigenen Gesetze erkennt.<br />

Die Philosophie hat es mit der Wahrheit zu tun, wie sie für die Vernunft existiert.“ Aber mit<br />

der Wahrheit hat nicht nur die Philosophie zu tun, sondern auch die Religion und die Kunst.<br />

Wir wissen bereits, daß die Poesie, nach Belinskis Definition, die Wahrheit in Form der Betrachtung<br />

und ihr Gegenstand der gleiche ist wie der Gegenstand der Philosophie, d. h. die<br />

absolute Idee, die in der Kunst im Bilde erscheint. Wenn das aber so ist, so ist leicht zu sehen,<br />

worin die Aufgabe der philosophischen Kritik besteht. Diese Kritik übersetzt die Wahrheit<br />

aus der Sprache der Kunst in die Sprache der Philosophie, aus der Sprache der Bilder in<br />

die Sprache der Logik.<br />

[398] Der philosophische Kritiker muß vor allem die Idee verstehen, die sich in einem<br />

Kunstwerk verkörpert hat, und sie seiner Wertschätzung unterziehen. Die von einem Kunstwerk<br />

ausgedrückte Idee muß konkret sein. Die konkrete Idee umfaßt einen Gegenstand von<br />

allen Seiten und in seiner ganzen Fülle. Dadurch unterscheidet sie sich von der nicht konkreten<br />

Idee, die nur einen Teil der Wahrheit, nur eine Seite des Gegenstandes ausdrückt. Eine<br />

nicht konkrete Idee läßt sich in einem echten Kunstwerk nicht verkörpern: das Bild, das eine<br />

einseitige Idee zum Ausdruck bringt, wird notwendigerweise selbst der künstlerischen Fülle<br />

und Ganzheit beraubt, d. h. leblos sein. Belinski sagt im Anschluß an Retscher (und im Gegensatz<br />

zu Herrn Polewoi), die Form müsse durch den Inhalt gerechtfertigt werden, „weil es<br />

unmöglich ist, daß sich eine nicht konkrete Idee in einer künstlerischen Form verkörpern läßt,<br />

wie es unmöglich ist, daß einem unkünstlerischen Werke eine konkrete Idee zugrunde liegen<br />

kann“.<br />

Jetzt wollen wir weitergehen. Hat der philosophische Kritiker die Idee gefunden, die den<br />

Künstler inspiriert hatte, muß er sich davon überzeugen, daß sie alle Teile des zu beurteilenden<br />

Werkes durchdringt. In einem Kunstwerk gibt es nichts Überflüssiges; alle seine Teile<br />

bilden ein unzertrennbares Ganzes, und selbst die Teile, die mit seiner Grundidee anscheinend<br />

nichts zu tun haben, sind nur dazu vorhanden, diese vollständiger zum Ausdruck zu<br />

bringen; Belinski führt als Beispiel den „Othello“ an, wo nur die Hauptperson die Idee der<br />

Eifersucht ausdrückt, während die übrigen Personen von anderen Leidenschaften und Interessen<br />

getrieben werden; nichtsdestoweniger dienen alle Nebenpersonen dieses Dramas dem<br />

Ausdruck der Grundidee. Somit „besteht der zweite Akt des Prozesses der philosophischen<br />

Kritik darin, die Idee des Kunstwerkes in ihrer konkreten Erscheinung zu zeigen, sie in den<br />

Bildern aufzuspüren und das Ganze und Einheitliche in den Einzelheiten aufzufinden“.<br />

Ein volles und vollständiges Verständnis eines Kunstwerkes ist nur durch die philosophische<br />

Kritik möglich, deren Aufgabe darin besteht, in dem Einzelnen und Endlichen die Erscheinung<br />

des Allgemeinen und Unendlichen zu finden. Selbstverständlich ist eine solche Kritik durchaus<br />

keine leichte Sache. „Selbst in Deutschland steckt eine solche Kritik eben erst in den Anfängen<br />

– als Ergebnis der letzten Philosophie des Jahrhunderts.“ Wir müssen noch lange auf sie warten,<br />

aber auch für uns wird es von Nutzen sein, sie als Ideal vor Augen zu haben.<br />

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