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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 18.07.2013<br />

stand zwischen dieser Karte und der Dichtkunst des Australiers ist sehr groß. In einem Salon<br />

darf man nicht das Wort „poitrine“ aussprechen. Es ist unschicklich. Weshalb? Weil es an das<br />

Fleischgericht poitrine de veau [Brust... Kalbsbrust] erinnert. Also hatte die Ökonomik des<br />

damaligen Frankreichs auf diese Literatur keinen Einfluß? Einen unmittelbaren Einfluß –<br />

nicht. Aber Sancho Pansa fragte Don Quijote, mit wessen Geld die fahrenden Ritter umherziehen.<br />

Ebenso kann man fragen: Auf wessen Kosten lebten die Kavaliere und Damen der<br />

Salons, die die „Karte der Zärtlichkeit“ studierten?<br />

Honoré d’Urfé hat den Leser nicht umsonst darauf aufmerksam gemacht, daß seine Helden<br />

Hirten nicht aus Not sind, sondern aus innerer Neigung. Er hat begriffen, daß sie sich, wären<br />

sie Menschen aus dem wirklichen Volke, unmöglich mit dem beschäftigen könnten, womit<br />

sie sich im Roman beschäftigen. Also ist zur Existenz solcher Ideale die Existenz einer Klasse<br />

notwendig, d[ie] ohne Arbeit leben kann. Mit anderen Worten, es ist die Teilung. der Gesellschaft<br />

in Klassen notwendig. Diese Teilung wird bedingt durch ökonom[ische] Ursachen.<br />

Somit ist die Ökonomie auch hier weiterhin wirksam, aber sie wirkt nicht unmittelbar: sie<br />

schafft nur die Situation, bei der sich die Menschen ihren Träumereien und Leidenschaften<br />

hingeben können, wie es bei unserem Nekrassow heißt. 1<br />

[371] Aber eine Teilung der Gesellschaft in Klassen gibt es schon lange; sie ist auch heute<br />

vorhanden. Auch jetzt gibt es in Frankreich Menschen, die leben, ohne zu arbeiten; weshalb<br />

war nun das ökonomisch gefestigte Frankreich nur in einer bestimmten Epoche seiner Entwicklung<br />

von den Romanen d’Urfés und Scudérys begeistert?<br />

Immer, wenn wir auf eine solche Frage stoßen, müssen wir uns klarmachen, welches der<br />

Zeitgeist der vorangehenden Epoche gewesen ist.<br />

Wie war nun die vorangehende Epoche in Frankreich? Es war die Epoche der Religionskriege,<br />

die ihren Höhepunkt in der berühmten Bartholomäusnacht (24. Aug[ust] 1572) erreichte.<br />

Es kam zu einer Verwilderung der Sitten, und als Reaktion <strong>erschien</strong> préciosité [Geziertheit].<br />

Das mag gezwungen erscheinen. Zwei Autoren 1. Morillot, Le Roman en France, 2. G. Lanson<br />

– der Verfasser der bekannten „Geschichte der Literatur in Frankreich“.<br />

Morillot (pp. 17/18): „Rien n’incline plus les esprits à la pastorale que les révolutions et les<br />

troubles civiles. Au sortir des horreurs de la Ligue on devait naturellement s’éprendre d’un<br />

idéal de politesse et de douceur; les compagnons du Béarnais 2 , en introduisant à la cour les<br />

grossièretés des camps, rendaient plus pressant le besoin d’une réforme dans la langue et dans<br />

les mœurs. C’est l’époque où Cathérine de Vivonne cesse d’aller aux assemblées du Louvre<br />

et réunit chez elle une société d’élite qui mettra sa gloire a parler purement“ etc. [Nichts<br />

macht die Geister dem Schäferspiel geneigter als Revolutionen und Bürgerkriege. Am Ende<br />

der Schreckensherrschaft der Liga mußte man sich natürlicherweise für ein Ideal der Höflichkeit<br />

und Milde begeistern; als die Gefährten des Bearners (Henri IV) die Roheiten der Feldlager<br />

in den Hof einführten, machte sich das Bedürfnis einer Sprach- und Sittenreform nur um<br />

so dringender. Es ist die Epoche, wo Catherine de Vivonne nicht mehr in die Hofversammlungen<br />

im Louvre geht und bei sich zu Hause eine auserlesene Gesellschaft versammelt, die<br />

bald ihren Ruhm dareinsetzt, eine saubere Sprache zu sprechen.]<br />

Lanson: „On ne saurait dire à quel point l’ignorance, ha grossièreté, la brutalité étaient venues,<br />

après quarante ans de guerres civiles, à la cour et dans la noblesse. Les dames telles que<br />

la marquise de Rambouillet furent les institutrices de la haute société elles firent de la galanterie<br />

et de la politesse les freins du tempérament; elles substituèrent peu à peu des plaisirs et<br />

1 Diese Worte stehen in dem Gedicht Nekrassows „Die Nacht“: „Konnten wir uns an allem nach Herzenslust<br />

ergötzen...“ (1858).<br />

2 [Henri IV.]<br />

G. W. Plechanow: Kunst und Literatur, Dietz Verlag Berlin 1955 – 30

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